THE RECKONING – Filmkritik

Leave town while you can!

(Wirt – The Reckoning)

Wenn Menschen großes Leid erleben, für das es keine Schuldigen zu geben scheint, lassen absurde Erklärungsversuche nicht auf sich warten. Was in der Corona-Pandemie die Verschwörungstheorien sind, waren im Mittelalter während der Pest die Hexen. Zehntausende Frauen wurden im Namen der Kirche unschuldig hingerichtet – eines der düstersten Kapitel der europäischen Geschichte. Regisseur Neil Marshall ruft diese Gräueltaten mit The Reckoning wieder ins Gedächtnis, stolpert dabei aber über seine eigenen Füße.

In einer kleinen Stadt wütet Ende des 17. Jahrhunderts die Pest. Die Bewohner*innen leben in Furcht, jede*r kämpft für sich selbst – eine Rettung scheint nicht in Sicht. Selbst die Bevölkerung außerhalb der Stadtmauern ist vor der Seuche nicht geschützt, was Grace (Charlotte Kirk) und ihr Mann Joseph (Joe Anderson) auf die harte Weise lernen müssen als sich Joseph infiziert. Doch bevor er von der Pest dahingerafft wird, nimmt sich der Bauer selbst das Leben. Nun steht Grace mit ihrem Neugeborenen alleine da, ohne Geld und Perspektive. Als sie dann auch noch von ihrem Vermieter Pendleton (Steven Waddington) bedrängt wird, ein Verhältnis mit ihm einzugehen, wenn sie schon die Miete nicht zahlen kann, und sich mit Gewalt dagegen wehren muss, beginnt der Albtraum. Voller Zorn über die Zurückweisung beginnt Pendleton im Dorf zu erzählen, dass Grace eine Hexe sei und hetzt ihr den Inquisitor (Sean Pertwee) auf den Hals. In seiner Gefangenschaft wird die Bäuerin unmenschlicher Folter ausgesetzt und sie beginnt um ihren Verstand zu kämpfen.

Revenge-Filme sind spätestens seit John Wick wieder groß im Kommen. Ein Genre, dass in den letzten Jahren immer feministischer wurde und starke Frauen auf die Leinwand gebracht hat – ob Red Sparrow mit Jennifer Lawrence oder Anna mit Sasha Luss. Auch Neil Marshall versucht sich in diese Reihe einzugliedern – jedoch ohne Erfolg. Von Anfang bis Ende fühlt sich sein Film wie ein fahler Geschmack auf der Zunge an – angefangen bei den Kostümen und dem Makeup.

Dass überhaupt Makeup zu erkennen ist, ist der erste Fehler, den Marshall begeht. Wieso trägt Grace als Bäuerin während die Pest wütet Lippenstift und Eyeliner? Nicht nur, dass das weder in die Zeit noch zur Berufsgruppe passt, es raubt der Figur Grace jegliche Nahbarkeit. Selbst auf dem Feld im Dreck oder nach einem langen Ritt in das Dorf sieht sie aus wie frisch gestylt und der Bezug zu ihr als leidende, arme Frau fehlt komplett. Ähnlich verhält es sich mit den Kleidern, die Grace trägt. Oft sehen sie so aus, als sei sie keine Bäuerin, sondern eine reiche Händlerin oder niederer Adel.

Auch die Frage, was der Film eigentlich sein möchte, kann Marshall nicht wirklich beantworten. Für ein Drama kommen zu viele Jumpscares zum Einsatz und der Bezug auf Hexen ist zu düster. Für einen Horrorfilm sind diese Elemente jedoch viel zu dünn. Dafür sind die gruseligen Stellen zu selten, die Schocker zu redundant und der Plot zu kitschig. The Reckoning schwankt zwischen beiden Genres, ohne seinen Platz so richtig zu finden.

The Reckoning (UK 2020)
Regie: Neil Marshall
Darsteller: Charlotte Kirk, Joe Anderson, Steven Waddington, Sean Partwee, Rick Warden, Mark Ryan
Heimkino-VÖ: 28. Mai 2021, Capelight Pictures

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Julius Tamm

Hat irgendwas mit Medien studiert, schaut gerne Filme und schreibt auch noch drüber. Autor bei bedroomdisco, FRIZZ Darmstadt, hr-iNFO Online und hessenschau Social Media.

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