DER SOMMER MIT ANAÏS – Filmkritik


© Les Films Pelléas – Année Zéro

Ich dagegen bin zu locker. Dauernd sagt mir eine Stimme: Morgen kannst du sterben, genieße den Augenblick.

(Anaïs – Der Sommer mit Anaïs)

Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind. Egal, wo sie hinmuss, sie rennt, weil sie zu spät ist. Sie ist ein nervöses Energiebündel, eine Literaturstudentin mit Bohèmienne-Lebensstil, quirlig und charmant. Menschen in ihrer Nähe überschwemmt sie mit einem Redeschwall aus intimen Informationen, und gleichzeitig ist sie immer auf dem Sprung, ungreifbar und unnahbar. Enge Bindungen sind ihr zu anstrengend; ihrer Vermieterin erklärt sie in lockerem Ton: “Das Leben zu zweit ist zu kompliziert, finden Sie nicht?” Ihre Beziehung steht auf wackligen Füßen, ihre Miete hat sie zwei Monate nicht bezahlt, und ihre Doktorarbeit ist immer noch nicht fertig, obwohl sich die Deadline nähert. Das einzige, was ihr wirklich wichtig zu sein scheint, sind ihre Bücher.

Aus einer Laune heraus schläft sie nach einer Party mit dem älteren, verheirateten Verleger Daniel (Denis Podalydès), der sofort fasziniert von ihr ist und mehr will; Anaïs aber beginnt sich im Lauf der Affäre immer mehr für seine Frau zu interessieren, die erfolgreiche Schriftstellerin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi), in der sie eine Seelenverwandte zu erkennen glaubt.

Der Film – übrigens das Debüt von Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet – folgt Anaïs zunächst von Begegnung zu Begegnung und bleibt dabei genauso unverbindlich und sprunghaft wie sie selbst; später werden auch ihre Hintergründe und ihre Familiengeschichte erforscht, wo wir als Zuschauer*innen dann andere Seiten von ihr sehen, die sie den Menschen in ihrem Leben nicht zeigt. Ihr Charakter ist ein bisschen wie eine französische Version von Phoebe Waller-Bridges’ Fleabag: Eine junge, charmante Frau, hinter deren unbekümmertem Verhalten sich einiges an Traumata verbirgt, was auch ihre Beziehungen durchsetzt und die leichtfertige Fassade im Laufe der Geschichte immer weiter bröckeln lässt.

Überhaupt ist der Film einfach wahnsinnig französisch, allein schon in seiner sinnlichen Betonung der sommerlichen Szenerie: Das luftig-quirlige Paris voller Leben und Bewegung bildet einen perfekten Gegensatz zu dem abgeschiedenen Landhotel an der Küste, wo Anaïs Emilie wiedertrifft, mit alten Rosengärten und einem bourgeoisen Schloss. Der Sommer mit Anaïs untersucht Beziehungsmodelle und was Menschen in Beziehungen suchen und vermeiden, wie sie dabei aneinander scheitern oder wachsen können, wovor man sich schützt und was man dafür opfert. Er stellt auch die Frage nach dem Wechselspiel von Intensität und Oberflächlichkeiten, und inwieweit der Hedonismus seiner Hauptfigur Realitätsflucht ist – oder, um es mit Anaïs’ Worten zu sagen: “Die Angst vor Unheil macht mich egoistisch.” Diesen schweren Themen nähert sich der Film trotz vieler ernsthafter und nachdenklicher Momente auf eine beeindruckend leichte und betörende Weise – eben genauso wie Anaïs.

Les Amours d’Anaïs (FRA 2021)
Regie: Charline Bourgeois-Tacquet
Darsteller: Anaïs Demoustier, Valeria Bruni Tedeschi, Denis Podalydès, Jean-Charles Clichet, Christophe Montenez
Heimkino-VÖ: 20. Oktober 2022, PROKINO Home Entertainment

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Tamara Plempe

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