JOHN CALE – Mercy


Foto-© Marlene Marino

This is the story, the story of blood
It starts in the heart
It moves all around, wakes you in the morning
And brings you down

You see it coming
The thickness and the color
Sliding across the floor
It moves all around, wakes you in the morning
And brings you down
And brings you down

(John Cale – Story Of Blood, feat. Weyes Blood)

Die Bedeutung von John Cale für die Rock-Geschichte ist kaum hoch genug einzuschätzen. Über seine erste Band, deren Einfluss von manchen Musikexperten mit dem der Beatles verglichen wird, sagte Brian Eno (seinerseits eine veritable Pop-Ikone) einst den berühmten Satz: “The first Velvet Underground album only sold 10,000 copies, but everyone who bought it formed a band.” Dennoch ist Cale von allen legendären Musikern der Sixties bis heute der rätselhafteste und wohl auch unbekannteste geblieben. Mit Mercy liefert der knapp 81-jährige Waliser nun ein Werk ab, das seinen Avantgarde-Status untermauert und dennoch ein breiteres Publikum erreichen könnte.

Schon der Vorbote dieses echten Brockens von Album (zwölf Tracks in durchaus fordernden 72 Minuten Laufzeit) war ein klarer Hinweis, dass hier eine der ersten wichtigen Platten des Jahres 2023 auf uns zukommt. In Story Of Blood sang Cale mit grabestiefer Stimme, während die ebenso intensiven Vocals der gerade mächtig abgefeierten Natalie Mering alias Weyes Blood einen wunderschön souligen Gegenpol bildeten. Ein gut siebenmütiger Song als Ausrufezeichen: Hört her, hier kommt der große John Cale zurück – und er tut dies nicht, indem er einfach nur sein Erbe verwaltet.

Tatsächlich ist Mercy eine Art Comeback, denn seit Shifty Adventures In Nookie Wood (2012) und M:FANS (2016; eine Neubearbeitung von Music For A New Society aus dem Jahr 1982) hatte sich der Artrock-Pionier rar gemacht. Doch während der Todestag seines Velvet-Underground-Mitstreiters (und Konkurrenten) Lou Reed sich Ende Oktober bereits zum zehnten Mal jährt, ist Cale auf diesem Studioalbum – trotz dessen düsterer Thematik und manchmal sogar gruseliger Ausstrahlung – quicklebendig und in Topform.

Er hat die oft von pochenden Maschinen-Rhythmen vorangetriebenen Songs komponiert, die meisten Instrumente (genauer gesagt: Synths, Keyboards, Piano, Drums, Gitarre, Bass, “Noises” und einige Streicher) selbst eingespielt, und er singt durchweg mit einer immer noch beeindruckenden Bariton-Stimme. Nicht übersehen sollte man den Beitrag einiger Gäste, die etwas über den ungebremsten Entdeckerdrang dieses stets auf der kreativen Suche befindlichen Musikers aussagen: Neben Weyes Blood verzieren Laurel Halo (im wie glühende Lava dahinrollenden Titelsong und Opener), Actress, Sylvan Esso, Animal Collective und Fat White Family die Mercy-Tracklist. Also nicht satte Rock-Promis seiner Generation oder irgendwelche ihm ergebenen Charts-Hipster – sondern Leute, die selbst eher in den spannenden, auch mal ungemütlichen Nischen der modernen Popmusik unterwegs sind.

“When an album may be your last, there’s every reason to not go quietly into that good night”, schreibt das renommierte UK-Magazin Uncut zutreffend in seiner euphorischen Besprechung von Mercy (und vergibt seltene 9 von 10 Punkte). Nein, leise geht dieser Musiker wirklich nicht von dannen. In Liedern wie Moonstruck (Nico’s Song) – offenkundig eine Hommage an die deutsche Velvet-Underground-Sängerin -, Noise Of You. Night Crawling oder den einigermaßen zuversichtlich betitelten Tracks Not The End Of The World und I Know You’re Happy präsentiert sich John Cale laut und selbstbewusst.

Mit den hypnotisch hellen Piano-Tönen von Out Your Window klingt ein hoch ambitioniertes, experimentelles und doch zugängliches Album aus. Es lässt den erschöpften Hörer mit dem Eindruck zurück, dass dieser unverwüstliche Künstler – wie schon sein Zeitgenosse David Bowie mit The Next Day und Blackstar oder zuletzt Bob Dylan mit Rough And Rowdy Ways – ein monumentales Spätwerk hinbekommen wird.

John Cale – Mercy
VÖ: 20. Januar 2023, Double Six/Domino
www.john-cale.com
www.facebook.com/OfficialJohnCale

John Cale Tour:
16.02.23 Karlsruhe, Tollhaus
19.02.23 Frankfurt, Batschkapp
25.02.23 Hamburg, Kampnagel
26.02.23 Leipzig, Haus Auensee
28.02.23 Berlin, Verti Music Hall
05.03.23 München, Muffathalle

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Werner Herpell

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