TRISTAN BRUSCH – Am Wahn


Foto-© Rebecca Krämer

Ein Mann stürmt aus dem Laufhaus
Er hat bezahlt, es stand ihm zu
Loggt sich in sein Freier-Forumsprofil und
Schreibt ne bissige Review

Ein schönes blondes Mädchen strahlt glücklich
In die Kamera
2000 Euro hat ihr Papa bezahlt
Dass sie Afrika retten darf

Oh, Lord
Zeig mir einen Mensch, dem ich verzeihen kann
Zeig mir einen Mensch, der mir verzeihen kann
Zeig mir einen Menschen, der mir zeigen kann
Wo lang die Welt sich dreht

(Tristan Brusch – Oh, Lord)

Ein ergiebiger Monat für deutschsprachige Popmusik – mit gleich vier ganz besonderen neuen Alben allein in der zweiten März-Hälfte: Niels Freverts Pseudopoesie, Herbert Grönemeyers Das ist los, Manfred Maurenbrechers Menschen machen Fehler – und nicht zuletzt dem mit Spannung erwartete Nachfolger von Tristan Bruschs Am Rest (2021). Schon vom Titel her knüpft Am Wahn, eine mal schonungslose, mal zärtliche Chanson-Pop-Platte, bei dem zu Recht hochgelobten Vorgänger an.

Irgendwo zwischen dem rumpeligen Folkpop von Sven Regener mit Element Of Crime (in Oh Lord und Monster), der Balladenkunst eines Gisbert zu Knyphausen, Freverts klugen Alltagsmomentaufnahmen und älterem Liedgut unter einem gewissem Schlager-Verdacht (Udo Jürgens, Reinhard Mey, Hildegard Knef, Alexandra) ordnet sich Brusch hier ein. “Bei vielen grundsätzlich ähnlich gelagerten Songschreibern in Deutschland würde man niemals auf die Idee kommen, das Wort Schlager in den Mund zu nehmen“, sagt Brusch zu seinen Bezugspunkten. “Bei mir schon – und ich weiß auch, woran das liegt. Mein Vortrag ist dramatischer, mich interessiert einfach die große Geste. Diese beinahe transzendente Wahrheit in guten, klassischen Schlagerstücken begeistert mich, in cooler Musik findet man das nicht unbedingt.”

Wie schon nach dem Kennenlernen von Am Rest fragt man sich nun verblüfft, wie dieser große Singer-Songwriter bis zum Alter von Mitte 30 so unter dem Radar bleiben konnte. Am Wahn, nach Bruschs Auskunft das “Dokument einer hypertoxischen Beziehung” und sicher eines der intensivsten, schwelgerischsten Alben aus hiesiger Produktion seit vielen Jahren, sollte diesen Geheimtipp-Status nun wirklich beenden.

“Wenn ich in meiner Musik etwas ganz Eindeutiges sage, schäme ich mich regelrecht, weil ich damit automatisch so viele Sichtweisen ausschließe“, sagt Tristan Brusch über seine Texte, die gleichwohl nie ins Kryptische oder Wolkige mancher Diskurspop-Kollegen abheben. “Ich finde es viel interessanter, nicht auf die Nase gebunden zu bekommen, wie man sich zu fühlen hat, und also die Reaktion auf ein Lied in der Person selbst entstehen zu lassen.” Nimmt man diese Devise als Grundlage für Am Wahn, kann ein spannender Prozess bei der Entschlüsselung von elf wunderbaren Liedern beginnen.

Vom eleganten, den orchestralen Sixties-Barockpop zitierenden Eröffnungsstück Wahnsinn mich zu lieben (über eine unheilvolle Zweierbeziehung) bis zum ergreifenden, stillen Schluss mit Für Theo: Tristan Brusch findet stets passende, zum Nachdenken anregende Worte und feine, zugängliche Melodien für seine komplexen Themen. Oft geht es um die Liebe – was sonst bei einem Künstler, der dieses Phänomen in vielen (auch den deftigen oder fiesen) Facetten auszuleuchten weiß. “Wenn Am Rest ein Trennungsalbum war, geht es auf ‚Am Wahn‘ um eine eher schädliche Beziehung“, sagt der in Gelsenkirchen geborene 34-Jährige. “Man denkt, man erlebt die Liebe, ist aber eigentlich nur im Wahn.”

Im Duett Kein Problem heißt Bruschs Gesangspartnerin Annett Louisan, die mit Babyblue selbst erst in diesem Februar eine bestens beleumundete neue Platte herausbrachte (übrigens, wie Am Rest und Am Wahn sowie Freverts Pseudopoesie, ebenfalls produziert von Tim Tautorat). In den berühmten Berliner Hansa Studios wurden die Songs gemeinsam mit Schlagzeuger Marcel Römer, dem Bassisten und Pianisten Felix Weigt, dem Bassklarinettisten und Tenorsaxofonisten Damian Dalla Torre und dem Saxofonisten Ralph Heidel eingespielt.

Das Ergebnis ist eine Crooner-Platte, die – gäbe es sie auf Englisch oder Französisch – durchaus von Scott Walker oder Jacques Brel stammen könnte. Und doch bleibt Am Wahn – mit der sehnsüchtigen, abgrundtief traurigen Klavierballade Wieder eine Nacht und der Mark-Kozelek-Adaption Am Herz vorbei als weiteren Höhepunkten – letztlich durch und durch ein neues Tristan-Brusch-Meisterwerk.

Tristan Brusch – Am Wahn
VÖ: 24. März 2023, Tautorat Tonträger
www.tristanbrusch.de
www.facebook.com/tristanbrusch

Tristan Brusch Tour:
02.10.23 Dresden, Societaetstheater
03.10.23 Hannover, Faust Theatersaal
04.10.23 Hamburg, Imperial Theater
12.10.23 Köln, Gloria Theater
13.10.23 Wiesbaden, Museum Wiesbaden
14.10.23 München, Deutsches Theater

YouTube video

Werner Herpell

Mehr erfahren →