Foto-© Paul Heartfiled
Welcome the ocean to all of our nightmares
And when the dreams in-between make us feel scared
Dance on the last mountain top with our hands raised
Drown in the joy of the ending of all things
(Tunng – Yeekeys)
Das Jahr 2005 begann mit einem Ereignis. Gleich im Januar erschien Mother’s Daughter And Other Songs, das erste Album von Tunng. Man ist immer noch hin und weg ob dieser kleinen Meisterleistung. Nichts daran klingt desperat. Elektronische Beats hämmern nicht wie im Club, sind gefühlvoll arrangiert. Akkorde auf der Akustikgitarre tönen tadellos. Naturgeräusche betören, es zischt, zwitschert und schnarrt. Die entspannten Stimmen von Mike Lindsay und Sam Genders haben gar nichts vom Trubel, der in London, dem Gründungsort der Band, die Regel ist. Fachberichterstatter subsumierten seinerzeit alles unter Folktronica, definierten so eine Mischung aus akustischen und elektronischen Sounds, zu der seinerzeit auch Kieran Hebden von Four Tet, Caribou oder Bibio neigten.
Alles eine Weile her. Trends kommen und gehen, man verändert sich. Das gilt jetzt nicht für die sechs Mitglieder von Tunng. Sie vertrauen auf Love You All Over Again, ihrem achten Studioalbum, dem ursprünglichen Weg. „Wir sind über die Jahre nicht stehengeblieben, es gab schon eine Entwicklung. Über allem steht immer dieses besondere Aroma, das Sam und ich auf dem ersten Album erzeugt haben“, erklärt Lindsay in einem Presse-Statement. In der Tat. Mit Everything Else ist man wieder drin im Kosmos dieser Briten. Es beginnt mit einer Stimme vom Band, es baut sich langsam auf. Die Instrumente hören sich nach wie vor natürlich und akustisch an, der Beat setzt ein und es knistert etwas. Dazu gesellen sich Warum-Fragen. „Why do we play this amazing stupid messed up game?“ ist eine davon. Im Video zum Song sieht man die Band auf Tour. Ist mit dem blöden und verkorksten Spiel, von dem sie reden, jenes rastlose Leben gemeint, dass man sich als Musiker auferlegt? Oder geht es um Dinge, die Menschen allgemein betreffen? Sucht es euch aus.
Mit zwei Songs gestatten Tunng Einblick in ihre Werkstatt. „Take our hands and come with us, we’ll show you something that you never saw before, deep underneath you can only see this“, heißt es an einer Stelle. Es erinnert an literarische Techniken, in denen Schriftsteller eine Verbindung zwischen Wirklichkeit und Fantasieräumen herstellen. „Neon ghosts with oak tree garlands, sing the music of the spheres, levitate a little, so that we don’t quite touch the ground“, ergänzt Genders ein paar Songs weiter. Der Gesang erinnert an Broadcast, The Beta Band oder Lali Puna, das sorgt für zusätzlichen Charme. Manchmal verzichten Tunng einfach auf den Text. Auch das Instrumental Drifting Memory Station ist wunderbar, wegen dem Angelo-Badalamenti-Touch, einem weiteren Voice-Sample und dem Wiehern eines Pferdes oder Knarren einer Tür. Ländlich-idyllische Bodenständigkeit kollidiert mit bezaubernde Signalen aus einer Parallelwelt. Man will fast an Jim Morrison denken, als er sang: „Break on through to the other side.“
Natürlich ist das alles nicht neu. Will es auch gar nicht sein. Aber wen stört’s schon. Wieder einmal ist man machtlos ob der besonderen Schönheit dieser Musik. Während der gesamten 45 Minuten findet man keinen einzigen Partikel, der störend oder überflüssig anmutet. Ist man einmal drin, kommt man nicht mehr raus und fühlt man sich pudelwohl. In einer Zeit, in der da draußen vieles antagonistisch ausgerichtet ist, Hassrede und Feindschaft dominieren, sorgen diese Engländer ganz aus sich selbst heraus für Harmonie. Soll doch alles den Bach heruntergehen, mit ihnen ist es erträglich – egal, ob der Kalender 2005, 2025, 2045 oder sonst was sagt.
Tunng – Love You All Over Again
VÖ 24. Januar 2025, Full Time Hobby
www.tunng.co.uk
www.instagram.com/thisistunng
Tunng live:
09.03.25 Berlin, Stummes Grün
10.03.25 Köln, Gebaude 9
