TOCOTRONIC – oder wie man sich selbst mit einer Goldenen Schallplatte ehrt

Foto-© Noel Richter

Es ist ein kalter Winter-Nachmittag Ende Januar, der sich noch eisiger anfühlt durch den Tabubruch im Bundestag, wo CDU und CSU erstmals mit der AfD auf höchster Ebene gemeinsame Sache machen zur Verschärfung der Migrationspolitik. An diesem Tag treffe ich zum Interview zwei von (nach dem Ausstieg des langjährigen Gitarristen Rick McPhail) nur noch drei Tocotronic-Mitgliedern: Sänger und Songschreiber Dirk von Lowtzow (53) und Schlagzeuger/Keyboarder Arne Zank (54).

Klar, dass Politik in dem (dennoch launigen) Gespräch eine Rolle spielt, zumal diese Band ja schon immer auch politisch für eine linke, fortschrittliche Demokratie engagiert war. Der schon im vorigen Oktober veröffentlichte Tocotronic-Song Denn sie wissen, was sie tun war da schon ziemlich deutlich, riss das Lied doch den rechtspopulistischen Brandstiftern ähnlich drastisch die Masken herunter wie vor vier Jahren Danger Dan mit Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.

Offizieller Anlass des Interviews: das am 14. Februar bei Epic erscheinende 14. Tocotronic-Album Golden Years. Es enthält ein Dutzend Lieder, die mal recht zugänglich, mal rätselhaft sind, mal persönlich und mal politisch, musikalisch wieder vom Feinsten zwischen energischem Indie-Rock, fragilem Songwriter-Pop und diesmal auch Folk/Americana changierend. Ein weiteres Juwel im makellosen Katalog dieser Band aus nunmehr 30 Jahren.

Hallo Arne und Dirk von Tocotronic! Schön, euch zu treffen. Ich freue mich sehr auf dieses Gespräch – toll, das das geklappt hat.
Lasst uns beim Cover Eures neuen Albums Golden Days beginnen. Ihr habt ja immer schon auch mal einfarbige Artworks verwendet, vom weißen Album 2002 über das rote Album von 2015 und das schwarze Album von 2018. Jetzt also „das goldene Album“. Wie kam es dazu – nur wegen des Albumtitels, aus ästhetischen Gründen, oder steckt eine ganz andere Botschaft dahinter?“

Dirk von Lowtzow: Du hast es schon vorweggenommen – wir hatten den Titel und uns dann gesagt: weißes Album, rotes Album, eine Art schwarzes Album, und jetzt ist eben das goldene Album dran.
Arne Zank: Wir kommen ja noch aus einer Zeit, wo es CDs und Schallplatten gab und dann irgendwann die „Goldene Schallplatte“ für gute Verkäufe. So etwas sich selber zu verleihen, fanden wir natürlich auch lustig. Es hat sich eben auch sehr gewandelt in der Wertigkeit, was das früher bedeutete und heutzutage, eine Goldene Schallplatte zu kriegen.
Dirk: Wir haben trotzdem nie eine bekommen (lacht).
Arne: Deswegen haben wir jetzt selbst eine gemacht. Ein bisschen so wie beim Ehren-Oscar. Wenn du den richtigen Oscar nicht bekommt, gibt’s den Ehren-Oscar, als Trostpreis.

Dann weiß man allerdings, dass man bald stirbt.
Arne: Das stimmt, dann ist man meist 80 oder schon drüber.

Auch Albumtitel sind bei euch ja selten ganz zufällig. Dabei fällt mir auf, dass ihr oft witzig oder auch visionär wart mit Digital ist besser von 1995 (mitten im CD- und noch vor dem Streaming-Boom) oder Pure Vernunft darf niemals siegen (gegen den kalten Pragmatismus der beginnenden Merkel-Jahre). Zuletzt kam aber wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Nie wieder Krieg 2022 der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und jetzt erscheint Golden Years, obwohl man sich gerade so denkt, dass die goldenen Jahre nun wirklich vorbei sind.
Dirk: Man kann den Titel ja, wenn man die Typo sieht mit dieser dornenhaften Schrift – man kann den ja schon als sarkastisch deuten. Das ist ein Strang auf dem Album und bei der Titelfindung, der sehr sehr stark war. Ich finde, durch diese Brände in L.A. hat es sogar fast etwas Apokalyptisches, diese golden-orangenen Feuer, die man da gesehen hat…

Diese TV-Bilder waren ja auch von einer grauenhaften Ästhetik.
Dirk: Genau. Und dann kann man das Gold in diesen dunklen Zeiten auch als eine Art Hoffnungschein sehen. Also kurz: Uns geht’s bei so einer Titelfindung immer um ein offenes System. Auch weil uns geschlossene Systeme autoritär vorkommen, weil sie ausschließen. Deshalb finden wir es eigentlich schön, wenn Titel so eine doppelsinnige Qualität haben. So wie unsere Lieder hoffentlich auch immer. Ich habe immer das Gefühl, das sind irgendwie Vexierbilder, man kann sie von verschiedenen Seiten aus betrachten.

Zur Doppeldeutigkeit des Titels passt ja auch die These, dass Golden Years schlicht und einfach auf David Bowie anspielt und seinen berühmten 1975er Song?
Dirk: Und dann ist Golden Years natürlich in Amerika sogar eine Anspielung auf das Rentenalter (lacht). Fanden wir auch ein bisschen lustig, wir sind ja schon 30 Jahre als Band zusammen, und wenn man für ein Rock-Jahr sechs bis sieben Menschenjahre rechnet, kommt das hin. Zudem hat das Goldene ja auch immer ein bisschen was von billig, im Englischen tacky oder campy.

Um nochmal auf Bowie zurückzukommen: Den höre ich als musikalischen Einfluss in dem Album – im Gegensatz zu anderen, auf die wir sicher noch kommen – nun nicht unbedingt heraus.
Dirk: Nein, das wohl nicht. Für mich als Kind, so als Zwölfjähriger, als Let’s Dance rauskam, war das natürlich wahnsinnig wichtig. Das waren so die ersten Teenager-Partys, wo man das erste Mal Eierlikör hat trinken dürfen, und vielleicht versucht hat, Engtanz zu machen oder rumzuknutschen. Also diese Platte mit Let’s Dance und China Girl und Modern Love, die war ein Soundtrack meiner Teenager-Zeit. Ich hab Bowie immer total bewundert, aber: Man soll ihn nicht imitieren, das geht meistens schief. Und es ist so spezifisch britisch-theatralisch, man kann das sehr schlecht ins Deutsche übersetzen.
Arne: Man kann daran nur scheitern, darf sich aber natürlich mal was borgen.

… und wenn’s nur ein Albumtitel ist: Damit lasst uns zur ersten Single vom neuen Album aus dem Herbst kommen, Denn sie wissen, was sie tun. Das würde auch ganz gut zu diesem Tag passen, wo wir im Bundestag eine gruselige Aufführung (von CDU/CSU und AfD zur Migrationspolitik) erleben. Ein Weckruf angesichts des wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland, mit Anspielung auf die Bibel und den James-Dean-Film – vor allem aber mit Textzeilen, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Euer direktester Protestsong bisher?
Dirk: Ja, vielleicht. Ob es der direkteste ist, weiß ich nicht, aber es ist auf jeden Fall ein Song, der einem Impuls gefolgt ist. Man hat was mitbekommen, in diesem Fall 2023 die verdoppelten Umfrageergebnisse der AfD, so dass es diesen Impuls gab, dazu in einem Song Stellung zu beziehen. Ein Protestsong also. Das Stück hat auch eine Harmonik, die dazu passt, die an Protestsongs zum Beispiel von Phil Ochs erinnert. Es gibt in unserer Laufbahn schon so ein paar direkte Proteststücke, zum Beispiel „Sie wollen uns erzählen“, mit diesem Gegensatz von „sie“ und „wir“…
Arne: Protestsongs sind schon ein Format, das wir immer interessant fanden, gern auch mal ein bisschen persifliert haben. Aber der Anlass war hier besonders deutlich, der Song reagiert auf eine aktuelle Begebenheit, und daher gehört er sicher zu unseren direktesten.
Dirk: Man kann es auch als ein Lied über eine bestimmte Form von Niedertracht hören, bei der Durchsetzung politischer oder auch persönlicher Ziele. Diese Niedertracht findet man parteiunabhängig. Mir fällt da auch das Spiegel-Cover mit Olaf Scholz ein, wo er sagt: „Wir müssen jetzt im großen Stil abschieben.“ Das empfand ich als politische Niedertracht, bei der mir wirklich schwindelig wurde. Allein diese Wortwahl. Man kann vielleicht im großen Stil bauen oder Arbeitsplätze schaffen, aber nicht im großen Stil abschieben. Das ist so unmoralisch, schon in der Semantik. Wie auch der „Fliegenschiss“ von Gauland, oder Höckes Anspielungen auf SA/SS. Wenn es dann hinterher heißt: Das habe ich nicht so gemeint – dann bin ich nicht mehr bereit, sowas zu akzeptieren. Denn diese Leute wissen ganz genau, was sie tun, um den Sprechraum ins Toxische zu erweitern.
Arne: Das gibt natürlich Signale in explizit rechtsradikale Kreise: Wir sind bei euch, ihr seid bei uns.

Wie gerade erst Elon Musk und seine Geste, die als Hitler-Gruß gelesen wurde. Der Mann kennt solche Codes doch ganz genau.
Dirk: Exakt.
Arne: Insofern ist das Lied wohl wirklich das Konkreteste, was wir jemals in der Form eines Protestsongs gemacht haben.

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Ich war vor ein paar Tagen wieder mal vor dem Brandenburger Tor, bei der großen Demo gegen Weidel, Merz, Trump. Ein Jahr davor auch. Alle Jahre wieder melden sich die zu Recht wegen Rechts besorgten Bürger und demonstrieren, doch es scheint nichts zu bewirken. Könntet ihr Euch angesichts dieser Entwicklung vorstellen, bei einer solchen Demo für die Demokratie aufzutreten?
Dirk: Sowas haben wir natürlich schon sehr oft gemacht. Zum Beispiel ich allein bei der „Unteilbar“-Demo am Großen Stern hier in Berlin, dann bei Sachen aus dem noch linkeren Spektrum, dem Konzert auf dem Alexanderplatz „Deutschland du Opfer“. Ich hätte es gut gefunden, auf dieser Veranstaltung am vergangenen Sonntag zu spielen, wir haben sie auch geteilt auf Instagram und so.
Arne: Wir finden politischen Support von Musikern auf jeden Fall gut und richtig, keine Frage.

Ihr kritisiert in dem Lied direkt die Demokratiefeinde: „immer mehr“, „gefährlich“, „gänzlich unverdreht“ und „völlig unverfroren“ mit ihrem „Terror als Identität“. Eure Konsequenz: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt“ – das werden viele noch nachvollziehen. Aber dann: „Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt“. Ist das Sarkasmus? Oder kommt man mit Freundlichkeit und Sanftmut gegen Faschisten zum Ziel?
Dirk: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Dies ist eigentlich ein drastisches Bild. Der Kuss führt ja in diesem Fall dazu, dass das Gegenüber abgemurkst wird, indem man ihm die Luft zum Atmen nimmt.

…so ein bisschen wie ein Todeskuss?
Dirk: Ganz genau, das war die Idee. Wir sind natürlich Leute, denen man einen Hang zur Gewalt nicht unbedingt abnehmen würde. Dass wir da mit dem Baseballschläger rumfuchteln oder so. Aber wir haben schon eine große Liebe zu einer lyrischen Drastik. Ich glaube, dass man in solchen Protestsongs Stolperfallen braucht, weil man dann zweimal hinhören muss und das Lied ein paar Schichten mehr hat als die eindimensionale politische Botschaft. Uns interessieren halt Doppeldeutigkeiten. Also es geht hier nicht darum, Nazis und Faschisten mit Sanftmut zu bekämpfen, das kann man nur mit politischer Entschlossenheit.

Los geht das Album mit dem Stück Der Tod ist nur ein Traum. Mit dem Tod ein Album zu eröffnen, ist auch bei Tocotronic eher ungewöhnlich. Und dann natürlich die schöne Zeile „Du kannst mir fast vertrau’n“ – diese Einschränkung, die das Vertrauen praktisch cancelt, eine Art Sprengfalle. Wie kam es zu diesem Lied?
Dirk: Das war beim Schreiben von Anfang an da, dieses „Du kannst mir fast vertrau’n“. Irgendwie kommt das so bei mir raus, dann denke ich: Ja, das ist schön. Weil das eigentlich ein Lied ist, das Trost spendet, aber durch diese minimale Verrückung wird sozusagen die Unsicherheit der menschlichen Existens mit eingebaut – dass man sich nicht zu sicher sein kann. Auch eine Sprengfalle gegen Kitsch.

Bei Golden Years, dem Titelsong, fällt mir eine gewisse Americana- und Folk-Stimmung auf. Habt ihr zuletzt viel Jeff Tweedy, Wilco, Neil Young gehört? Man erkennt deren Feedback-Gitarren ja auch in einem Lied wie Mein unfreiwillig asoziales Jahr. Und Niedrig hat sogar so etwas wie eine Country & Western-Maultrommel und eine Melodica drin, das klingt dann wie in einem Morricone-Italowestern.
Dirk: Ja, stimmt. Die Unendlichkeit war ziemlich britisch, hatte diese Einflüsse von 80s-Pop, Prefab Sprout, Lloyd Cole, Go-Betweens, so eine Art Sophisticated Pop. Das letzte Stück des neuen Albums, Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song, ist nun eine Antwort auf das Buch Wie schreibe ich einen Song von Jeff Tweedy. Es geht darum, dass der Weg das Ziel ist, das hat mich sehr berührt bei diesem Buch. Ja, muss ich zugeben, Country ist da drin, Neil Young auch. Ist schon sehr speziell, diese Americana, man muss das schon mit einer gewissen Lässigkeit spielen, das ist die große Kunst.

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Der Song Golden Years ist auch textlich sehr interessant, ein nostalgischer Rückblick auf Konzerte in der Freilichtbühne Recklinghausen und Göttingen versus Spotify-Gegenwart. Früher war alles besser?
Arne: Nee, das ist eigentlich ganz gegenwärtig gemeint, dieses Lied. Die Freilichtbühne Recklinghausen ist übrigens auch ein fiktiver Ort, da haben wir also nie gespielt…
Dirk: …wohl aber auf der Freilichtbühne Dinslaken (lacht).
Arne: Ja, da sehr wohl… Das Lied ist also aus dem Leben gegriffen. Wir haben es eigentlich auch gar nicht so mit der Nostalgie.

Das Album Golden Years hat, so habe ich es verstanden, nicht unbedingt einen roten Faden wie bei einem Konzeptalbum, es besteht eher aus aufeinander bezogene Song-Gruppen.
Dirk: Ja, es sind so miteinander verwobene Stränge, Cluster.

Auch dieses Album wird wieder von Toco-logen und Hamburger-Schule-Kennern genau seziert werden …
Dirk: Das sind unsere Swifties…

Sehr schön. Mal im Ernst, nervt euch diese Schlaumeier-Schublade eigentlich inzwischen ein bisschen? Helfen euch eure diversen Nebenprojekte und Gastspielrollen, Abstand vom Schul-Meister-Klischee zu kriegen?
Arne: Das Wort Hamburger Schule hat eine Zeitlang schon wahnsinnig genervt.
Dirk: Huch, er hat das H-Wort gesagt!!!
Arne: (lacht) Andererseits waren wir da schon ambivalent. Was sollten wir auch machen, wir hatten es ja selbst verbockt. Inzwischen finden wir es eher lustig. Ich kann es wertschätzen, zu dieser ganz besonderen Szene gehört zu haben.
Dirk: Nein, genervt sind wir nicht. Das ist ja nichts, weswegen man sich schämen muss. Diese Hamburger Schule, der Diskurs-Pop, das Spiel mit Zitaten, all das wird halt hier sehr oft als irgendwie intellektuell gelesen, dabei ist das Ganze sehr viel spielerischer gewesen. Und in England oder Amerika übrigens auch viel normaler.

Zuguterletzt: Was erwartet ihr in kommerzieller Hinsicht von Golden Years? Die letzten sieben Tocotronic-Alben waren alle Top 3. Muss das jetzt immer euer Ziel sein als Sony-Act?
Arne: So explizit haben die uns das bisher nicht gesagt (lacht).
Dirk: Dass wir sieben Alben unter den Top 3 hatten – das war mir gar nicht so bewusst. Wir arbeiten aber auch sehr akribisch und sehr hart an unseren Alben, in textlicher wie musikalischer Hinsicht, bei der Cover-Gestaltung und so weiter. Da rauchen sehr viele Köpfe, es gibt schlaflose Nächte. Und natürlich ist es dann schön, wenn man den Eindruck hat, dass das honoriert wird. Druck wegen der Charts-Platzierung gibt es nicht. Der einzige Druck, den macht man sich selbst: Das Ganze soll irgendwie gelungen sein.

Liebe Tocos, keine Sorge, das Album ist sehr gelungen. Ich danke euch für dieses Gespräch.

Tocotronic Tour:
19.03.25 Leipzig, Felsenkeller
20.03.25 Stuttgart, Im Wizemann
21.03.25 Nürnberg, Z-Bau
26.03.25 München, Tonhalle
27.03.25 Freiburg, E-Werk
29.03.25 Wiesbaden, Schlachthof
09.04.25 Bremen, Schlachthof
10.04.25 Dortmund, FZW
11.04.25 Hannover, Capitol
12.04.25 Köln, E-Werk
20.04.25 Berlin, Columbiahalle
26.04.25 Hamburg, Große Freiheit

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Werner Herpell

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