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Nur noch wenige Wochen Wartezeit, dann öffnet sich für Verehrer (der Begriff „Fans“ wäre in diesem Fall zu wenig) des tragischen Brit-Folk-Genies Nick Drake (1948-1974) eine Schatzkiste: Am 25. Juli soll nun endlich das seit langem sehnsüchtig erwartete Boxset zu Five Leaves Left erscheinen, also zu einem der besten Debütalben des Pop überhaupt. Auf vier LP’s beziehungsweise CD’s bietet die prachtvolle Edition The Making Of Five Leaves Left Demos, Outtakes, Raritäten und natürlich die ikonische Originalplatte in einer Remaster-Version. Lechz!
Auch 25 Jahre nach der großen Wiederentdeckung und 50 Jahre nach seinem Suizid am 25. November 1974 ist Drake, der zu Lebzeiten gerade mal 31 Songs auf drei Alben mit insgesamt knapp zwei Stunden Laufzeit veröffentlichte, eine mystische, bewunderte Musikerpersönlichkeit. Aber eben auch eine rätselhafte, schwierige. Etwas Licht ins Dunkel um diesen Menschen und Künstler will nun eine weitere Biographie bringen – oder zumindest eine „Annäherung“, die sich als Lesestoff vor den kommenden Five Leaves Left-Offenbarungen anbietet.
„Ich fahre in die englischen Midlands, um das Grab von Nick Drake zu besuchen“, so beginnt der Philosophie-Professor Jürgen Goldstein seine sensible Schilderung über Nick Drake – die erste von einem deutschen Autor für die stetig wachsende Community von Verehrern. Dieser erste Satz sagt schon viel aus über die Art, wie sich Goldstein dem Gegenstand seiner „lebenslangen Faszination“, diesem zuletzt schwer depressiven, mit nur 26 Jahren wohl durch Suizid gestorbenen Singer-Songwriter, nähert: diskret, vorsichtig, gleichsam privat und auch ein bisschen (im positiven Sinne) demütig.
Goldsteins Nick Drake – Eine Annäherung ist (schon im Buchtitel) ganz anders als das vor drei Jahren erschienene englischsprachige 562-Seiten-Meilenstein-Werk Nick Drake – The Life von Richard Morton Jack, eine ziegeldicke, allumfassende Biographie, die den Anspruch hatte, das Leben einer der rätselhaftesten, vielleicht auch unzugänglichsten Musikerpersönlichkeiten des Pop komplett auszuleuchten. Der 1962 geborene Koblenzer Geisteswissenschaftler versucht, auf knapp 300 Seiten den Mythos Drake über Eindrücke von seinem persönlichen Hintergrund (Familie, Freunde, Förderer), über die Exegese seiner gerade mal drei Dutzend offiziell überlieferten Songs, über eigene Gefühle für diese wunderschöne Musik zu entschlüsseln.
Um am Ende seiner Recherche-Reise, beim Abschied von England, einzuräumen: „Ich (…) gehe der Frage nach, ob ich Nick Drake nähergekommen bin. Ich habe Zweifel.“ Denn: „Das Geheimnisvolle seiner Person hat er meisterlich zu schützen gewusst.“ Ob Drake das nun mit Absicht, als junger Künstler mit einem ausgeprägten Wunsch nach Privatsphäre, oder aus tief verwurzelter, womöglich krankhafter Verschlossen- und Schüchternheit tat, die ein trauriger Teil seiner viel zu kurzen Biographie wurde? Vielleicht ist es gerade das Unergründliche eines durch mentale Probleme gefährdeten, nicht vollständig gelebten Lebens, das die Faszinationskraft dieses zu Lebzeiten frustrierend erfolglosen, gleichwohl fabelhaften Songschreibers/Texters, grandiosen Gitarristen und mit einer warmen, äußerst einnehmenden Stimme gesegneten Sängers ausmacht.
Nach Beginn seiner Pilgerfahrt nach Tanworth-in-Arden in den englischen Midlands, wo Nick Drake viele Jahre in einer gutbürgerlichen, liebevollen, musik-affinen Familie („gehobene britische Mittelschicht“) verbrachte und seinem Leben mit Tabletten ein Ende setzte, taucht Goldstein mit diversen zeitlichen Sprüngen (also nicht chronologisch) immer tiefer in die zunächst unspektakulär wirkende Geschichte des Musikers ein. Kurz streift er Drakes denkmalhohe Einstufung durch heutige Pop-Kritiker (Millenium hero, Legende, Fingerpicking-Genie), spiegelt seine enorme Nachwirkung auf Promis und Musik-Größen, von Barack Obama und Brad Pitt über Elton John und Boy George bis zu Brad Mehldau, dessen Klavier-Jazz-Coverversionen von Drake-Songs besonders herausragen.
„Ihm wird von jenen, die sein schmales Werk kennen, Achtung, Verehrung, ja Liebe entgegengebracht“, schreibt Goldstein. Die besten seiner 31 Songs, die zu Lebzeiten auf den drei offiziellen Studioalben Five Leaves Left (1969), Bryter Layter (1970) und Pink Moon (1972) erschienen, plus einige der fünf posthum veröffentlichten Aufnahmen seien quasi der „Gold-Standard, der für diese Kunstform den gültigen Maßstab setzt“. Recht hat er – fragen Sie nur mal Thom Yorke von Radiohead, Norah Jones, Guy Garvey von Elbow, Leslie Feist, Will Stratton oder Robyn Hitchcock.
Welchem Stil Nick Drake letztlich zugeordnet werden kann, ob nun Folk, Jazz, Songwriter-Pop, Blues oder Rock-Psychedelia, bleibt angesichts der grenzenlosen Kunst dieses hochbegabten Musikers eigentlich irrelevant (und macht ihn heute für so viele, und immer mehr, Künstler aller Genres so spannend, zuletzt abgebildert auf der Tribute-Platte The Endless Coloured Ways (2023) oder in einer pianistischen Verbeugung von Demian Dorelli vor Five Leaves Left (2025).
„Am 19. Juni 1948 wurde Nicholas Rodney Drake in Rangun im heutigen Myanmar geboren“, dieses biographische Detail erwähnt Jürgen Goldstein nach einem längeren, nachdenklichen Vorlauf erst auf Seite 22 seines Buches. Um dann gleich klarzustellen (und sich selbst abzusichern): „Ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe eine Annäherung. Ich schreibe über jemanden, den ich nur durch seine Musik kenne, seine Songs, seine Alben. Die Fotos, die ihn zeigen, habe ich vor Augen, ich brauche sie kaum noch anzuschauen, um sie vor mir zu sehen. Seine Stimme ist mir durch die Aufnahmen bekannt wie die eines Freundes. Doch das ist alles aus zweiter Hand. Ich weiß nicht, wer er war.“
Um doch mehr zu erfahren, hat der Wissenschaftler selbstverständlich mit Weggefährten des scheuen Musikers Kontakt aufgenommen – die üblichen Verdächtigen Joe Boyd (Produzent), John Wood (Tontechniker) oder Richard Thompson (Folk-Genre-Kollege) etwa tauchen in Zitaten aus Gesprächen, Mail-Antworten oder ihren eigenen Büchern in Goldsteins „Annäherung“ auf. Auch die ausgeprägte „Englishness“ von Nick Drake, das sehr Ländliche seiner Lieder, die Liebe zu älterer britischer Literatur als Grundlage seiner Lyrics werden ausführlich beleuchtet. Und verdientermaßen die Virtuosität seines Gitarrenspiels.
Der deutsche Buchautor hat zum Glück ein breites musiktheoretisches und Text-Verständnis, das ihm eine profunde Würdigung der drei Drake-Alben ermöglicht. Auch wenn von dieser Stelle freundlich-dezenter Einspruch erhoben werden muss gegen die Einordnung der zentralen, mit vier Instrumentals aufwartenden Folk-Jazz-Platte Bryter Layter – für Goldstein lediglich ein „merkwürdig interessantes, Höhe- wie Tiefpunkte bietendes Album“, für viele andere sein Opus magnum. Nun gut, über Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten.
Insgesamt glücken dem Koblenzer Philosophen hervorragende, teils seitenlange Analysen beispielsweise zu Time Has Told Me und River Man (von Five Leaves Left), zu Poor Boy und Northern Sky (von Bryter Layter), zum schwer depressiven Black Eyed Dog und zu Pink Moon, dem Lied, das Drake vor 25 Jahren durch eine VW-Werbung doch noch zum „Star“ machte (von Pink Moon). Kenntnisreicher und liebevoller kann man so etwas kaum machen.
Ein Hinweis von Drakes Entdecker und großem Unterstützer Joe Boyd hat Jürgen Goldstein besonders „elektrisiert“: „Nick is a Norman for sure, regardless of what his DNA might say“, gab ihm der US-Amerikaner als Denkanstoß mit auf den Weg. „Nick Drake als Nachfahre der normannischen Eroberer? Als Mitglied einer herrschenden Adelsschicht?“, fragt sich Goldstein. „Sein künstlerisches Psychogramm fügt sich dieser Vorstellung. Drake strahlt in seiner Musik und seinem künstlerischen Habitus einen inwendigen Adel aus. Seine Kompositionen sind aristokratisch und formvollendet. Sie verstehen sich weder als Unterhaltung noch als Protest einer gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Klasse, sondern als Kunst, durch die der Atem der Zeit geht: ‚Time has told me‘.“
Mag der Normannen-Vergleich von Boyd/Goldstein womöglich etwas zu weit hergeholt sein, so zeigt er doch, wie tiefgründig gute Kenner von Nick Drakes Leben und Werk inzwischen auch mit Zweifeln oder Leerstellen umgehen, um das Mosaik dieser Künstler-Biographie zu vervollständigen. „Drake war in seiner Kunst kompromisslos, selbstbewusst, entschieden, herrschaftlich und überlegen“, fasst der deutsche Autor das Ergebnis seiner überaus gelungenen „Annäherung“ zusammen. „Im Reich seiner Musik war er majestätisch. Mag er auch in den letzten Lebensjahren an allem gezweifelt haben – niemals an seiner Musik.“
Jürgen Goldstein – Nick Drake – Eine Annäherung
VÖ: 20.03.2025, Matthes & Seitz, Berlin
Hardcover, 292 Seiten
ISBN 978-3-7518-2043-1
25,00 Euro
