APPLETREE GARDEN FESTIVAL 2022 – ein rauschendes Fest

Foto-© Stephan Strache

Willkommen zu Hause! Nach drei Jahren des Wartens war es am am ersten Augustwochenende dieses Jahres dann endlich so weit: der 20. Geburtstag vom Appletree Garden Festival konnte gefeiert werden. Veranstalter, Besucher und Künstler sorgten für eine unvergessliche, wunderschöne Geburtstagsfeier und liessen sich nicht mehrmals bitten. Natürlich war nicht alles Gold, was glänzte. Trotzdem war es ein rauschendes Fest. Es lässt uns immer noch über beide Ohren strahlen. All die schönen Eindrucke und musikalischen (Neu)Entdeckungen wirken nach. Aber damit nicht genug: beim Vertieften, etwas genaueren Blick konnten wir für uns noch etwas, abseits der Musik und des Feierns mitnehmen:

Wie wahrscheinlich jede größere Veranstaltung dieser Tage hatte auch das Appletree Garden dieses Jahr mit Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen. KünstlerInnen fielen kurzfristig aus. Infrastruktur konnte nicht wie geplant genutzt und/oder zur Verfügung gestellt werden. Doch anstatt in blanken Aktivismus zu verfallen wurde der Zeitplan entzerrt und zwei (noch) lokale, aber wunderbar ins Setting passende Künstler (orbit & WEZN) gewonnen. Alles andere machte das Festival so wett: so viel Liebe, so viel Charme und so ein guter Musikgeschmack trösten locker über lange Schlangen für kalte Duschen hinweg. Und wer sich nach mehr Hygiene sehnte, konnte immer noch per Bimmelbahn einen Abstecher ins Freibad machen. Mit dieser Gelassenheit blöden Situationen zu trotzen, können und wollen wir uns auf jeden Fall mitnehmen. Genau wie diese Grundentspanntheit, die in Diepholz allen Anwesenden ein Dauerstrahlen ins Gesicht zauberte. Danke dafür!

Es war wie ein Heimkommen und wunderbar empfangen werden. Doch damit nicht genug. Trotz Abo aufs ausverkaufte Festival (und das in diesen Tagen der rückläufigen Kartenverkäufe von Konzerten und Festivals), trotz jahrelangem (organischem) Wachstum, werden hier die (natürlichen) Wachstumsgrenzen der Idylle anerkannt. So haben alle ein entspanntes Festivalerlebnis. Es bleibt Platz zum Innehalten. Platz zum Verschnaufen. Und zumindest die beiden größeren Bühnen bieten durchgehend genügend Platz für alle.

Gefühlt gehört das Appletree Garden Festival seit Jahren zu denjenigen deutschen Festivals mit dem perfekten Mix aus etablierten Indie-Größen und dem Gespür für spannende, neue Musik. Ein wenig Eurosonic, verfrachtet in die Idylle des Diepholzer Bürgerparks. Besser gehts nicht. Ohne viel vorwegzunehmen, hielt das diesjährige Line Up auch dieses Versprechen, hier bereits die Bands zu sehen, über die nächstes Jahr jeder spricht.

Kaum geschrieben, komme ich aber auch direkt in die Bredouille: Wer ist Newcomer? Wer etabliert? Zu zweiteren lassen sich sicherlich Kakkmaddafakka und Metronomy zählen. Beides etablierte, alte Hasen im Indie-Zirkus. Beide kehrten nach Diepholz zurück und beide wurden dafür wie natürlich auch für ihre famosen Auftritte gebührend gefeiert. Während die Norweger mit ihrer energiegeladenen Show die Menge mitrissen, zelebrierten Metronomy später die Auflösung des Individuums. Katharsis bei Populärmusik. Susan Sontag wäre glücklich. Musik, die einem schmeichelt, mitnimmt und ummantelt. Musik, die den Moment zelebriert und ins Unendliche dehnt. Besser geht ein Finale nicht. Doch nicht nur zum Finale fuhr das diesjährige Appletree Garden Festival groß auf.

Seit ein paar Jahren ist der Donnerstag fester Bestandteil des Festivals. Dieses Jahr durften Brockhoff im Spiegelzelt eröffnen. Hätte ich sie nicht bereits auf dem Way Back When und die Woche zuvor auf dem Watt En Schlick Fest sehen dürfte, wäre es sicherlich die erste Überraschung des Festivals. So war ich dann einfach nur glücklich, sie direkt wieder sehen zu dürfen. Kokettierte Brockhoff in Dortmund noch mit ihrer Nervösität, war hier nichts mehr davon zu spüren. Mittlerweile scheint ihre Debut EP Sharks auch genügend Festivalgästen bekannt zu sein, so dass die eigenen Songs genauso wie das Foo Fighters Cover gefeiert wurden. Was für ein gelungener Festivaleinstand.

Es blieb kaum Zeit zum Durchatmen, ehe Buntspecht die Große Bühne eröffneten. Die Österreicher versprühen live derart viel Spielfreude, dass auch bereits zum späten Donnerstagnachmittag der Platz vor der Bühne bestens gefüllt ist. Wobei gefüllt es nicht ausreichend trifft: am Tanzen ist die Menge. Mehr Euphorie, Ausgelassenheit und Extase sah ich an diesem Donnerstag nicht mehr. Aber ich war natürlich auch nicht überall. Und ich stieß im Spiegelpalast bereits Donnerstag an meine physischen Grenzen. Wurde er voll, ging die Menge ab, reichte – unabhängig wie sehr mich die Band auch kickte – meine Energie mit FFP2 Maske nur für drei, vier Lieder. Dann war die Maske nass und ich durch. So Donnerstag zum Beispiel bei Lime Cordiale. Mega Auftritt, mega Band. Leider im Spiegelzelt.

Aber es gab zum Glück auch noch genügend Bands draußen. Los Bitchos zum Beispiel. Bei ihrem Auftritt möchte ich einfach nur dasitzen, mitwippen und eine Rum-Cola trinken. Grossartige Musik zum Verweilen, sich gut fühlen…und trinken. Vielleicht meine Cari Cari dieses Jahres. WEZN, relativ spontan eingesprungen, sorgten für meinen persönlichen Aha-Moment mit ihrem wunderbaren Auftritt auf der unheimlich schönen, neuen Bühne, dem Tiefen Holz. Sie verzauberten und liessen strahlende Gesichter zurück. Einfach wunderschön. Wenn eine Musik in den Wald dort passt, dann ihre. Nach WEZN hatten es andere dann schwierig. Weder Curtis Harding, in guten Momenten an seinen Soul-Namensvetter erinnernd, oder Dadi Freyr schafften dies. Bitte nicht falsch verstehen: beide waren wunderbar und haben Spaß gemacht. Aber WEZN im Tiefen Holz waren so ein (unerwartetes) grossartiges Erlebnis. Da passte einfach alles.

Nachdem das prognostizierte Unwetter Diepholz weitestgehend verschonte, setze dann irgendwann der Regen ein. Appletree ohne Schlamm scheint eine Utopie zu bleiben. Pünktlich zum Auftritt Albertine Sarges hörte dieser dann aber auf (und das obwohl sie im trockenen Spiegelzelt spielte).

Zum Freitag spielten viele ihre Hits zum Ende. Außer Team Scheisse, die durch ihr Set knüppelten, Karstadtdedektiv und Rein ins Loch mitten drin. Ein Hit jagte den nächsten. Selbst überrascht, wie viele Menschen sie vor die Waldbühne zogen, zelebrierten sie ihren Auftritt als Ode an den Punk und jeder der Anwesenden, der irgendwann einmal von Deutschpunk sozialisiert wurde, wurde nostalgisch und war in ihren Bann gezogen. Vielleicht die Überraschung des Festivals und definitiv eine gelungene Entscheidung nach kurzfristigen Absagen anderer, Team Scheisse draußen auf der Waldbühne anstatt im Spiegelzelt – wie ursprünglich einmal geplant – spielen zu lassen.

Überhaupt die Waldbühne. Und überhaupt der Freitag. Auch wenn ich nur so in Superlativen schwelge: Black Sea Dahu auf der Waldbühne war so ein Moment, wunderbare Musik in wunderbarer Kulisse. Vielleicht so ein Moment des Schwelgens. Ähnlich als Alice Phoebe Lou zum Schluss ihres schönen Sets Witches darbietet. Wunderschön. Momente, Eindrücke, wie sie nur das Appletree schreibt. Momente, von denen sich das Restjahr zehren lässt.

Während die Waldbühne freitags diese besonderen Appletree Glücksmomente lieferte, zeigte sich die große Bühne für die großen Gesten verantwortlich: Roy Bianco zelebrierten den Schlagerstrudel, lieferten ein rauschhaftes Fest, feiern den Schlager als Sehnsuchtsort aller Anwesenden und schenken dem Appletree Garden eine Geburtstagssause des Italo-Schlagers. Dachten wir da noch mehr Extase geht nicht, setzten Provinz noch eins drauf. Sie sind nun – endlich und zu recht dort angelangt – wo man sie seit zwei Jahren sieht: im Indie-Olymp. Und so kosten sie nun endlich auch live den Erfolg ihrer Musik aus. Welch ein Anblick als zur Zugabe dann gute 6000 Besucher zu Tanz für mich für die Ravensburger tanzten. Provinz feiern in der niedersächsischen Provinz. Besser geht’s kaum. Aber warum überhaupt besser. Manchmal ist die Stimmung halten schon Erfolg. Ob halten oder noch ein Schippchen drauf legen, fällt schwer zu beurteilen. Mit einem Bühnenbild bestückt mit roten Nelken betritt Faber dandyhaft die Bühne. Seine Gesten sind noch größer geworden. Seine Freude am Kokettieren ebenfalls. Es bleibt ein großartiger Musiker mit einer großartigen Band. Spielerisch wechseln sie munter die Genres. Verpacken wichtige Botschaften in leichte, wunderbare Lieder. Halten uns den Spiegel vor. Was für ein Tag. Ein Tag voll von Musik und Eindrücke. Und ein weiterer Tag kam noch…

Dieser startete für uns mit Siegfried & Joy. Leider blieb es nicht bei dem entspannten Start. Denn vielmehr entpuppte sich der Auftritt des Magier-Duos als Parabel ans Leben: es gibt nicht nur gut und schlecht. Auch gut intendiertes kann schlecht ausgeführt werden oder in etwas schlechtem munden. So leider auch die Show der beiden. Als Teil ihres Auftritts warf Joy eine Spielzeug Taube ins Publikum. Wenig später bat er dann darum, dass das Kind, das die Taube gefangen hatte, diese wieder auf die Bühne werfen sollte. Entsprechende Reaktion des Mädchens blieb aus. Daraufhin trug er Kind mit Taube gegen den augenscheinlichen Willen des Kindes auf die Bühne und machte Witze auf Kosten des Kindes. Wie die meisten Anwesenden waren auch wir so perplex und dachten, es sei Teil einer inszenierten Show. Erst als der Vater kam, um seine Tochter zu trösten, ahnten wir, dass dem nicht so sei. Während der Zaubershow kamen Vater und Tochter nochmals zu Siegfried und Joy um den Vorfall aufzuarbeiten. Öffentlich gab es keine Einsicht Joys, stattdessen nur eine halbherzige Entschuldigung samt weiteren Witzen über Kinder.

Im Anschluß daran war jegliche Magie verflogen. Wir verließen, wie auch viele andere Gäste das Tiefe Holz. Ungläubigkeit, Ratlosigkeit und Verärgerung machte sich unter denjenigen breit, die es mitbekamen. Die Stimmung war gekippt. Unmittelbar vor Ort gab es dann wohl doch noch eine Aufarbeitung der Ereignisse mit allen Beteiligten. Siegfried & Joy waren im Anschluss ihres Auftritts selbst am Boden zerstört und haben sich mit Eltern und dem Kind zusammengesetzt. Es ist schön zu lesen, dass sich aktiv unmittelbar dem Angenommen wurde.

Trotzdem brauchten wir Zeit, um wieder zum Festivalmodus zurückzufinden. Das schaffte eine weitere Überraschung: Oehl. Mit schöner Musik und pointierten, gesellschaftsrelevanten Ansagen holte er uns wieder ab und versöhnte uns mit dem Tag. Sie ebneten den Weg für Rikas, die in guter Tradition ihr schwäbisches Feuerwerk der guten Laune abbrannten. Tortellini Tuesday funktionierte auch an einem Sonntag.

Überhaupt: kann es zu viel gute Musik, zu viele gute Momente geben. So langsam setzte die Reizüberflutung ein. Und wir hörten überall, wen wir bereits alles verpasst hatten: orbit zum Beispiel. Er machte angeblich im Spiegelzelt dort weiter, wo WEZN im Tiefen Holz aufhörten. An die Intensität von Noga Erez reichte allerdings nichts mehr an diesem Tag. Selbst Kakkmaddafakka fanden in ihr ihre Meisterin. Wir verfolgten trotzdem ihren Auftritt aus der Ferne, um uns ein wenig für den Endspurt zu schonen.

Unser Finale leitete dann Kat Frankie auf der Waldbühne ein. Sie verzauberte alle, führte das Erbe von Black Sea Dahu und Alice Phoebe Lou gebührend fort. Kurz vor der Katharsis mit Metronomy brachte Edwin Rosen dann noch mal das Spiegelzelt zum Kochen. Er sorgte für Einass-Stopp und eine ekstatische Menge. Leider war für mich nach drei Liedern Schluss: zu warm, zu eng mit Maske wieder. Die drei Lieder waren aber gewohnt großartig. Edwin Rosen schaffte es eben auf den Punkt mitzunehmen. Während wir dann nach Metronomy bereits in unserem Zelt angelangt waren, wurden wir von dort aus Zeuge all der Energie von Ravi Kuma. Selbst mit Distanz und ohne den Auftritt zu sehen, wurden wir Zeuge ihrer Wucht. Manchmal braucht es zum Einprägen nicht einmal die körperliche, unmittelbare Anwesenheit. Danke Appletree Garden Festival für dieses besondere Wochenende! Es war wunderbar.

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Stephan Strache

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