PROTOMARTYR – Interview

Foto-© Trevor Naud

Detroit? Da denkt man an Garagenrock, Motown, Funk, Booty Bass oder Techno. Madonna war auch lange in der Ecke zu Hause. Mit Post-Punk hatte man es an der Grenze zu Kanada nicht so. Dann traten Protomartyr 2012 mit No Passion All Technique an, und schon ging in Michigan auch in diesem Genre was. Die Gitarre von Greg Ahee nörgelte, der Rhythmus von Alex Leonard und Scott Davidson rumpelte wie im Rockabilly und drüber stand mit Joe Casey ein Sänger, der sich wie Mark E. Smith aufbäumte. All Passion No Technique really. Ganz wunderbar.

Nachfolgend verfeinerte sich alles. Es wurde nuancierter. Aber die Anti-Establishment-Mentalität blieb. Auf dieser Basis entstanden großartige Alben. Klar waren da all die Einflüsse, die man seit Jahrzehnten kennt. Aber Aktualität spielte merklich hinein, frischte auf. 2017 kam Relatives In Descent und man spürte, wie Casey der ganze Systemscheiß in den USA einfach nur ankotzte. Trump-Terror tat sein Übriges. Exemplarisch war Windsor Hum, ein Song über das nervige Surren, das Bewohner im kanadischen Windsor bis in die Nacht nervte und offenbar wissentlich auf der anderen Seite des Flusses in Detroit als nicht so völkerverbindende Maßnahme generiert wurde.

Protomartyr standen auf dem Sprung zu Größerem, aber dann kam die Pandemie. Das wieder exzellente Album Ultimate Success Today ging unter, konnte nicht live vorgestellt werden. Jetzt, da der Nachfolger Formal Growth In The Desert bereitsteht, offenbaren Joe Casey und Greg Ahee die Problemlage. Sie sind nach Berlin gereist, um alles zu erklären. Wie die Band praktisch am Ende war. Wie man sich wieder in den Griff bekam. Was dabei half. Und wie es bei dem ganzen Mist, den man so erdulden muss, doch Momente des Glücks gibt, die aufbauen.

Detroit hat in der Musik reihenweise Legenden hervorgebracht. Welche Kollegen von früher oder heute aus der Stadt begeistern euch?
Joe: Da fällt mir zuerst die Band Tyvek ein. Ohne sie würde es Protomartyr vielleicht nicht geben. Ihr Gitarrist Kevin Boyer ist einer meiner besten Freunde, er spielte ganz zu Anfang bei uns mit. Ich war mal Roadie von Tyvek und traf Greg bei einem Gig der Band.
Greg: Für mich ist die Techno-Szene der Stadt ein großer Einfluss. Matthew Dear gibt mir viel, mit ihm habe ich schon mal was produziert. Mir gefällt die minimalistische Art, wie in diesem Genre Musik gemacht wird. Sie haben alle eine gute Arbeitsmoral.

Wie ist euer Standing in Detroit? Werdet ihr als lokale Helden gefeiert?
Joe: Das würde ich nicht sagen. Anfangs spürten wir nicht viel Gegenliebe. Erst nachdem wir Auftritte in Europa hinter uns hatten, nahmen uns die Leute ernster. Im Rest des Landes ist es noch schwieriger, weil in den USA alles so riesengroß ist. Detroit ist für uns eine gute Basis, da sind unsere Familien zu Hause. Es macht finanziell gesehen absolut Sinn, die Lebenshaltungskosten sind nicht so hoch wie in New York oder Los Angeles. Und die Musiker der Stadt sind mit Herzblut bei der Sache. Wir und viele Weggenossen sind nicht vom Gedanken besessen, dass aus uns ganz schnell was werden muss. Die Dinge können in Ruhe wachsen, das große Business bleibt außen vor.

Wie habt ihr unter diesen Bedingungen zusammengefunden, was war der gemeinsame Nenner?
Joe: Die einzige Band, auf die wir uns alle einigen können, ist Wire. In den ersten Jahren bemühte ich mich, den anderen Mitgliedern The Fall und Pere Ubu schmackhaft zu machen. Das klappte nicht so ganz (lacht). Greg, Alex und Scott bringen ihren eigenen Sound ein. Es ist wichtig, dass sie diesen Freiraum haben. Daran wird nicht gerüttelt.
Greg: Jemand kommt in den Übungsraum, spielt etwas und wir gehen darauf ein, ohne es groß zu diskutieren. Wir listen nicht hochwissend Namen oder Akkordsequenzen auf. Es ist eine Frage des Gefühls. Bei uns fließt alles automatisch zusammen.

Wie lief es dieses Mal ab, verglichen mit den Arbeiten an den fünf Protomartyr-Alben zuvor?
Greg: Durch Covid war alles anders. Ich habe ein ganzes Jahr lang nur völlig deprimiert herumgesessen und nichts Kreatives zustande gebracht. Dann wurde mir angeboten, Musik für Kurzfilme zu schreiben. Darüber kam ich wieder in die Gänge. Langsam begann die Vorarbeit zum neuen Album. Als uns klar war, dass daraus was werden könnte, buchten wir ein Studio. Vorher hatten wir uns eine Woche lang in der Nähe von New York in einer Hütte versammelt und alles auf den Punkt gebracht. Es ging alles sehr schnell. Für mich klingt alles wie aus einem Guss, wie auf The Agent Intellect. Vor den Aufnahmen zu anderen Platten haben ein ganzes Jahr lang bruchstückweise am Material gesessen, dadurch zerfaserte es mehr.
Joe: Ich für meinen Teil habe noch nie Songs in einer abgelegenen Waldhütte geschrieben. Die Abschottung hat gewirkt, uns inspiriert. Während der Pandemie saß ich auch bloß rum, trank zu viel und stopfte alles Mögliche in mich rein. An Musik war da nicht zu denken. Zoom-Konzerte kamen für mich nicht in Frage. Wir wussten einfach nicht, wie wir unter diesen Bedingungen funktionieren können. Es war wie zu Zeiten, als ich noch nicht in der Band war. Es machte alles keinen Sinn. Zum Glück haben wir uns wieder aufgerafft.

Wart ihr an einem Punkt, wo ihr dachtet, es geht nicht mehr weiter mit dieser Band?
Greg: Absolut, ja. Ich hatte keinen Antrieb, keine Eingebung. Ich zweifelte an mir. Wenn ich darüber nachdenke, merke ich immer wieder, wie niedergeschlagen ich war.
Joe: Hinzu kam, dass wir zeitweilig an verschiedenen Orten lebten. Greg war in Chicago, Alex in New York mit seiner Hochzeit beschäftigt, die andauernd verschoben werden musste. Scott und ich waren in Detroit. Wir alle mussten erst wieder irgendwie zusammenkommen. Die ersten Shows nach der Pandemie waren seltsam. Ich dachte mir: Wie hast du es eigentlich früher geschafft, jede Nacht auf der Bühne zu stehen? Ich musste mich wieder in den Kampfmodus bringen. Zum Glück hat es geklappt.

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Die Aufnahmen fanden schließlich in den Sonic Ranch Studios in Texas nahe der Grenze zu Mexiko statt. Die Platte heißt Formal Growth In The Desert. Wie war es dort?
Greg: Die geografische Umgebung hatte meiner Meinung nach keinen Einfluss auf die Arbeit. Was einigermaßen paradox ist, wenn man bedenkt, wie sehr dieses Mal vieles klanglich mit Western-Musik und Ennio Morricone zu tun hat. Die Gitarrenakkorde und eine Pedal-Steel sprechen sehr dafür. Ich war schon mal vor fünf, sechs Jahren in diesen Studios, mir hat es dort sehr gefallen.
Joe: Wir sind nicht mit dem Gedanken in die Aufnahmen gegangen, ein Album mit viel Texas-Atmosphäre zu machen. Klar ist man wegen der umliegenden Pekannuss-Plantage beeindruckt, die sich drumherum über Meilen erstreckt. Wir fanden es dort auch deshalb gut, weil es wärmer als in Michigan ist. Und es hatte praktische Gründe. Wir haben schon in Studios gesessen, in denen Equipment fehlte oder nicht mehr funktionierte. Das ist da unten ganz anders. Du findest dort alle Gitarren, die du brauchst. Ebenso überragende Mischpulte. Alles sehr professionell.

Zu Beginn in Make Way hört man den Morricone-Sound. Der Song leitet auch textlich mit „You can grieve if you wanna but please don‘t ruin the day“ gut ein. Es hört sich nicht so missmutig wie sonst an.
Joe: (lacht) Noch griesgrämiger als vorher ging es eigentlich nicht. Es war persönlich gesehen schon eine schwierige Zeit, auch weil meine Mutter gestorben ist. Andererseits werde ich bald heiraten. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Mich bewegt, welche unmenschlichen Zustände Angestellte von Amazon erleiden müssen. Wie Musk von einigen als Superheld gefeiert wird. Wie selbst der Sport mehr und mehr unter Geschäftemacherei leidet. Und am Ende gibt es als Kontrast den Love-Song Rain Garden.

Bei den White Stripes, auch aus Detroit, gibt es I Think I Smell A Rat. Bei euch heißt ein neuer Song We Know The Rats. Um welche Rattenplage geht es?
Joe: Meine Familie hat 60 Jahre ununterbrochen in einem Haus gelebt. Nie ist eingebrochen worden. Ich wollte mit meiner Verlobten darin leben, aber dann passierte es. Ich rief die Cops. Sie fragten, ob es eine Alarmanlage gäbe. Wir hatten keine, da sagten sie, dass man dann mit Einbrüchen rechnen muss und sich nicht wundern darf. Dann riefen sie nicht mehr zurück und schickten den Papierkram an die falsche Adresse. Sie haben scheinbar Wichtigeres zu tun. Da ist mir der Einbrecher fast sympathischer. Er hat beim Durchstöbern brauchbare Gegenstände gefunden, von deren Existenz ich nichts wusste. Die Wohnungspolitik in der Stadt ist eine Katastrophe. Entweder lebt man in Wohnungen, die immer teurer werden. Oder es siedeln sich Firmen an, die ihre Räume nicht nutzen. Da denken sich einige, dass es in diesem toten Areal etwas zu holen gibt und brechen ein.

Bald seid ihr wieder unterwegs. Euer Konzert in Berlin findet Anfang November statt.
Greg: Perfekter Zeitpunkt (lacht). Wir werden dieses Mal zu fünft auftreten. Wer das neue Mitglied sein wird, wissen wir noch nicht. Kelley Deal ist gerade anders beschäftigt, wir hatten sie ja schon mal dabei. Ein Pedal-Steel-Spieler wird es nicht sein. Es könnte auf Slide-Gitarre und Keyboards hinauslaufen und würde sich dann anders als auf Platte anhören. Das finde ich spannend.

Protomartyr Tour:
05.08.23 Haldern, Haldern Pop Festival
06.08.23 Frankfurt, Zoom
15.08.23 Hannover, Cafe Glocksee
31.10.23 Hamburg, Bahnhof Pauli
01.11.23 Leipzig, UT Connewitz
02.11.23 Berlin, Hole44
06.11.23 München, Strom

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