BARBARA GOWDY – Mister Sandman

“Mr. Sandman, bring me a dream… Make him the cutest that I’ve ever seen…”

(The Chordettes)

Wer kennt sie nicht, die Bücher von denen man nie etwas gehört hat, der Autor relativ unbekannt ist und man sich selbst erst einmal darüber klar werden muss, was man davon eigentlich halten soll. So ist es mir auch beim Lesen von “Mister Sandman” von Barbara Gowdy ergangen. Der Roman der kanadischen Autorin kontrastiert die recht unscheinbare Familie Canary von bizzar bis realistisch.

Farblos, langweilig, fad erscheint ihr Zusammenleben, bis eine Wende in ihrem Leben zum Katalysator oder eher Initiator wird.Die Wiedergeburt der kleinen Joan. Ein bildschönes Kind, das von Jung und Alt bedingungslose Liebe erfährt. Und das obwohl sie, wie die Ärzte es nennen, einen Hirnschaden hat. Von nun an nehmen Irrungen und Wirrungen ihren Lauf: Joan ist der jüngste Spross der Familie und wird-da die Geschichte in den fünfziger Jahren spielt-aus Schicklichkeit nicht von ihrer leiblichen Mutter, sondern von ihren Großeltern großgezogen. Um die Schwangerschaft unbemerkt zu lassen, entschließt die Mutter (der Vati wird dann später auch irgendwann mal eingeweiht), dass Mutter und Tochter zu einer altersschwachen Tante nach Vancouver reisen und erst nach der Geburt wieder in Toronto das Baby als eigenen Nachkömmling präsentieren werden. Gesagt, getan. Denn, die leibliche Mutter ist die erst fünfzehnjährige Sonja, die wohl sowas wie einen one-night-stand hatte, wie sie selbst später feststellt.

Sehr zum Verblüffen ihrer richtigen Schwester Marcy, die nymphomanische Züge hat.Denn sie ist einziges Familienmitglied, die nichts von der Mutterschaft ihrer Schwester Sonja weiß und auch nichts ahnt, da ihre stark adipöse Schwester mit ihren zwanzig selbstgestrickten Stoffdackeln hinter dem Mond zu leben scheint. Sonja hingegen sieht sich als “die geborene Karrierefrau”, da sie mit einer unstillbaren Leidenschaft Haarklemmen für eine örtliche Firma sortiert und auf Anraten ihrer Mutter alles für schlechte Zeiten beiseite legt. Na ja und schlicht und ergreifend hat die Familie auch irgendwie vergessen Marcy einzuweihen. Kann ja auch mal passieren. Wem ist das nicht auch schon in so trivialen Angelegenheiten passiert? Alleine diese beiden fiktiven Figuren würden mit ihren schonungslosen und intimen Einblicken dem Leser schon ein Schmunzeln oder zumindest ein Kopfschütteln abverlangen. Schwanken die Charaktere doch immer irgendwo zwischen dem Absurden und der Normalität.

Jedoch vermag die Autorin den Leser zusätzlich mit dem Thema Sexualität zu locken. Oder eher zu schocken. Denn inmitten dieser trügerischen Familienidylle entpuppt sich das eingefahrene Eheleben der Canarys als Doppelleben; Vater Gordon und Mutter Doris sind beide homosexuell, aber natürlich-wie sollte es auch anders sein-wissen beide nichts von den Vorlieben des jeweiligen Partners. Ganz zu schweigen eine von den Mädchen. Einzige Eingeweihte und somit Person bei der alle Fäden zusammenlaufen ist ausgerechnet die kleine Joan, um die sich in “Mister Sandman” alles zu drehen scheint. Dem kleinen Genie, die hochsensibel auf Geräusche reagiert und diese in gekonnter Echolalie wiedergibt, Frequenzen wahrnehmen kann die anderen Menschen verborgen bleiben und wie Mozart über ein absolutes Gehör verfügt. Die aber durch beschädigte Gehirnareale weder sprechen noch schreiben kann und physisch im Stadium einer Sechsjährigen verweilt. Ausgerechnet ihr offenbaren alle Familienmitglieder ihre intimsten Geheimnisse, jüngste Erlebnisse und tiefsten Sehnsüchte. Sie stellt auf groteske Weise das Verbindungsglied zwischen den parallel geführten Leben ihrer Liebsten da. Und führt auf höchst eigenartige Weise die diversen Fäden dieses verwobenen Familiengeflechts zusammen.

“Mister Sandman” ist ein unerwartet fesselndes Buch. Jeder Figur wird trotz dem vermeintlichen Fokus auf Joan ausreichend Platz geboten ein umfassendes Bild von sich zu geben, ohne wirklich jemals Gründe oder Rechtfertigungen für Handlungsweisen und Verhalten zu fordern. Interessiert wie der Nachbar hinter der Gardine beobachtet man das Geschehen aus der Distanz und ist doch inmitten der prekärsten Situationen. Die Schonungslosigkeit mit der Barbara Gowdy ihre Charaktere seziert, jedoch niemals bloßstellt, höchstens Mitleid erzeugt, ist beeindruckend und lässt auf ihr Einfühlungsvermögen schließen. Nichts ist wie es scheint. Normal ist undefinierbar.

Lesenswert!

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Mister Sandman – Barbara Gowdy
Fischer Taschenbuch Verlag 1998
16,90€, 284 Seiten