POP-KULTUR FESTIVAL – raus aus der Komfortzone, rein in die Welt

Was bedeutet Popkultur im Jahr 2019 in Berlin? Das Pop-Kultur Festival fand vom 21.-23. August auf dem Gelände der Berliner Kulturbrauerei statt und suchte Antworten auf diese Frage. Raus aus der Komfortzone, rein in die Welt – so wurde das innovative Line-Up dieses Jahr von den Veranstaltern angepriesen.

Das Besondere an diesem Festival ist schließlich, dass das Land Berlin und der Bund üppig fördern mit rund 1,2 Millionen. So gelang es auch ein sehr ambitioniertes Programm auf die Beine zu stellen, das neben 99+ Konzerten, DJ-Sets, Talks und Filmen eins schaffte, was die meisten Mainstream-Festivals diesen Sommer nicht schafften: gelebte Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion. Und das bedeutete: über 50 Prozent Künstlerinnen sind im Programm, einen barrierefreien Zugang, All-Gender-WCs und Gebärdendolmetscher/innen. Das Motto 2019 lautete Space und so wurde auch darauf geachtet, dass viel mehr internationale Acts auftreten. So waren dieses Jahr unter anderen Bands und Künstler wie Mykki Blanco, CocoRosie, Planningtorock, Prada Meinhoff, Ilgen Nur und International Music Teil des Line-Ups. Neben Konzerten waren auch Talk-Runden Teil des Programms zu den Themen „Inklusive Kulturformate in der Popkultur“ oder „Darf ich noch Michael Jackson hören? Und wenn ja, wie? Pop, Ethik und Identitätspolitik“. Wir waren zwei Tage vor Ort, um uns einen kleinen Eindruck des Festivals zu machen, den wir euch hier schildern wollen.

Am ersten Festivaltag hatte der Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow am frühen Abend einen Auftritt im Kino der Kulturbrauerei. Er las aus seinem literarischen Debüt Aus dem Dachsbau vor, das im Februar 2019 erschienen ist. Bevor von Lowtzow mit dem Lesen begann, eröffnete er den Abend zunächst mit dem Song Date mit Dirk, dass er auf der Akustik-Gitarre vortrug. Tocotronic-Fans waren schon da begeistert, den Song aus dem 2015er Album der Band zu hören. Aus dem Dachsbau ist keine klassische Autobiografie, sondern vielmehr eine autobiografische Enzyklopädie von A wie Abba bis Z wie Zeit. Die Zuhörer*innen erfuhren so gleich zu Beginn von seinem früh verstorbenen Jugendfreund Alexander, mit dem ihn auch schon früh die Liebe zur Musik verband, zu denen vor allem auch die Goldenen Zitronen gehörten. Es sind vor allem die Geschichten vom Aufwachsen in der Provinz, vom Anderssein und Zweifeln, die sehr bewegend sind und nachdenklich machen. Tocotronic Songs wie Gott Sei Dank Haben Wir Beide Uns Gehabt erhalten durch das Wissen aus dem Buch noch mal eine ganze neue Bedeutung.

In der Reihe Pop-Kultur Commissioned Works konnte man dann eine Reihe von exklusiven Auftragswerken sehen. In dem Programmteil trat unter anderen die deutsch-bulgarische Pianistin Lisa Morgenstern mit den Bulgarian Voices Berlin auf. Es war für die Künstlerin eine besondere Ehre mit diesem Chor aufzutreten, was sie ganz melancholisch und gleichzeitig stolz gemachte. Das Ergebnis dieser Kollaboration war eine harmonische Balance, zwischen elektronischer und klassischer Musik. Auf ihrem im Februar erschienen Album Chameleon, hat sie bereits bei Songs wie My Boat gezeigt wie gut sie es versteht, experimentelle Popmusik mit klassischen Elementen modern zu verbinden. Der Frauenchor führte live noch zu einer Verdichtung ihrer kristallklaren Stimme.

Als Headlinerin des ersten Abends trat die britische Künstlerin Anna Calvi auf, bei der es den größten Andrang im Kesselhaus gab. Mit schwarzem Anzug, rotem Lippenstift und dunkler Lockenmähne betrat sie die Bühne und legte eine beeindruckende Performance hin. Calvi ist für ihre Virtuosität an der Gitarre bekannt und versteht es live mit intensiven und spannungsgeladenen Rocksongs zu überzeugen. Voller Energie singt sie in Don’t Beat the Girl out of My Boy über festgefahrene Geschlechterrollen, worum es vor allem auf ihrem 2018 erschienenen Album Hunter geht. Beim Konzert von Anna Calvi übernimmt die Gebärdendolmetscherin Laura Schwengber die Übersetzung der Songs und avanciert dabei selber zum Kult. Die Gesten von Sängerin und Dolmetscherin glichen sich beim Song Wish dabei soweit an, dass es wie eine eigene Choreografie wirkte.

Am zweiten Festivaltag wurde als eines der Highlights des Programms die Hamburger Punkrocker Die Goldenen Zitronen angepriesen. Die gibt es tatsächlich seit 1984 und gelten dadurch als Vorläufer der Hamburger Schule – zu denen auch Tocotronic zählen. Sie hätten sich damals wahrscheinlich auch nicht träumen lassen, dass sie mal bei einem vom Bund gesponserten Festival spielen würden. Anfang des Jahres kam das neue Album More Than a Feeling raus und die Band spielt auch in 2019 noch immer politischen Diskurs-Punkrock mit Songs wie Das war unsere BRD oder Mauern bauen (testweise). In farbenfrohen Kostümen kamen sie auf die Bühne und bewiesen, dass sie noch lange nicht ans Aufhören denken. Auch Hits wie Wenn ich ein Turnschuh wär gaben sie zum Besten. Um den Festivalabend ausklingen zu lassen, war die Band Ätna aus Dresden ein gutes Kontrastprogramm zu den Goldies. Sängerin und Pianistin Inéz und Drummer Demian kennen sich von der Musikhochschule und spielen melancholischen Elektro-Pop, der sich durch Minimalismus und wuchtige Beats auszeichnet. Ihre bekanntesten Songs Remission und Walls sind auf einer EP 2017 erschienen, ein Album soll bald folgen.

„Popkultur soll unterhalten. Aber nicht nur das. Popkultur will die Zustände neu verhandeln, weil sie diese nicht hinnehmen will.“ So lautete die Einleitung der Veranstalter zum 5. Pop-Kultur Festival. Es war schön zu sehen, dass es in Berlin nach wie vor gelingt ein öffentlich gefördertes Festival auf die Beine zu stellen, dass zeigt wie divers und politisch und progressiv ein Festivalprogramm sein kann. Das sollte durchaus als Vorbild gelten für den Mainstream.

Sara Lingstädt

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