LOW FIDELITY – Michelle Records (Hamburg)

Foto Credits © Sebastian Madej

Vergangene Woche habe ich mich mit Christof Jessen getroffen. Christof betreibt zusammen mit André Frahm im Gertrudenkirchhof 10 in Hamburg Michelle Records, den 2014 mit dem Musikpreis Echo ausgezeichneten Plattenladen. Michelle Records ist für mich und viele andere Kunden, viel mehr als ein Ort, an dem man sich die aktuellen Neuveröffentlichungen auf Vinyl besorgt. Warum, dass kannst Du erahnen, wenn Du das Interview mit Christof liest.

1.Seit wann betreibst Du den Laden, wie kamst du dazu einen Plattenladen zu eröffnen und ist das Führen des Ladens & die Motivation dahinter wirklich so „romantisch“ wie es immer dargestellt wird?
Ich habe den Laden nicht eröffnet im eigentlichen Sinne. Den Laden gibt es seit 1977. Ich bin seit 1986 hier. Nachdem ich nach der Schule ein Jahr vom Haschisch verkaufen gelebt habe und mir das keine wirkliche Zukunftsperspektive gab, habe ich dort, wo ich eh immer ein bis zweimal wöchentlich war, einfach gefragt, ob ich arbeiten könne. 1999 ist Michelle Records dann aufgrund von Managementfehlentscheidungen insolvent gegangen und ich habe den Laden mit zwei Partnern und einem neuen Konzept übernommen. 2007 ist André dann als Partner dazu gekommen und wir beide betreiben Michelle Records seitdem gemeinsam.

Meine Motivation? Ich lieb das halt hier. Ich bin Musiker, ich bin Schallplattenverkäufer, mein Leben findet mit Musik statt. Wir waren uns damals sicher, dass man den abgehalfterten Klepper wieder hochbekommt, trotz aller Schwierigkeiten, wie z.B. der Digitalisierung, die die letzten zwanzig Jahre uns so gebracht haben. Wir haben versucht einen Sinn darin zu finden den Laden zu betreiben und das gelingt uns nach wie vor. Die Frage nach dem warum, nach der Romantik, stellt sich für mich nicht, da es für mich einfach normal ist. Es bringt Spaß etwas in die Stadt Hamburg hinein zu geben. Uns geht es nicht nur um Umtausch von Ware gegen Geld. Wir veranstalten Konzerte, haben viele Bands an Label vermittelt, Label an Vertriebe und bekommen im Gegenzug viel Unterstützung aus der Branche. Auch das ist dieser Plattenladen, tief verzweigt in der Musik-/Kulturbranche. Da wo sich alles trifft, die Musiker, die Labels, die Grafiker, die Journalisten usw.. Das bringt einfach viel Spaß.

2. Würdest du heute immer noch einen Plattenladen eröffnen?
Heute würde ich definitiv keinen Plattenladen mehr eröffnen. Wenn wir nicht unsere seit 30 Jahren gewachsenen Verbindungen hätten, wäre es völlig unmöglich so etwas zu machen.

Man könnte einen Second-Hand-Laden machen, wenn man sich gut auskennt, aber wir sind halt auch ein Neuware-Laden mit ca. 80% Neuwareumsatz. Wir versuchen Geld zu generieren das dann im Endeffekt in die Struktur des Musikbusiness reingeht, das die Musiker, Labelbetreiber, Studiobesitzer, Tontechniker etc. durchfinanziert und um ein Geschäft in unserer Größe zu betreiben sind wir darauf angewiesen faire Einkaufspreise zu erhalten, um marktfähig zu verbleiben.

3. Die Corona-Pandemie hatte ja zuletzt noch mal einige einschneidende Auswirkungen sowohl auf die Musikindustrie als auch alle Bereiche des Tourens und Vertriebs von Musik. Wie habt ihr die Auswirkungen bei euch im Geschäft erlebt, habt ihr vielleicht auch euer Geschäftsmodell angepasst oder irgendwelche Aktionen gemacht – falls ja, wie waren eure Erfahrungen?
Bei uns war es so, dass wir gleich zu Anfang gesagt haben, dass wir uns nicht in die Passivität treiben lassen wollen. Keiner wusste was wird, aber mein Gedanke gleich zu Anfang war, dass was in diesem Land an Solidaritätsfähigkeit steckt, seit 2015 bekannt ist und wenn man etwas in die Gesellschaft rein gibt, kommt in der Regel auch etwas zurück. Wir sind Musiker und Schallplattenverkäufer und unser erster Gedanke war, wenn die Leute nicht auf Konzerte gehen können, dann machen wir eben mit unserer eigenen Band Konzerte im Laden für die Leute da draußen und streamen das Ganze. Bisher haben wir Band und Laden strikt getrennt, fanden aber, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, um das Ganze zusammenzuführen. Wir haben dann jeden Tag ein Stück im Laden live aufgenommen und das veröffentlicht, um den Leuten zu Hause etwas zu geben. Laden haben wir, Bühne haben wir, Instrumente haben wir und ein Telefon zum Aufnehmen ebenfalls. Mehr braucht es nicht. Die Reaktionen waren super. Wir hatten über 1000 Views im Schnitt und das Ganze hat irgendwie für ein Gefühl von Zusammengehörigkeit gesorgt.

Außerdem haben wir gleich beschlossen einen Plattenlieferdienst zu machen. Wir haben den Leuten angeboten Platten zu bestellen und Andre fährt die dann mit seinem Bus direkt an die Haustür. Später hat ihn dann noch eine Freundin des Hauses unterstützt, als das alles doch sehr viel wurde. Das war ehrlich gesagt nicht unbedingt wirtschaftlich, da der Aufwand doch sehr groß war. Viele Leute haben mehrere Platten bestellt, die waren aber zum Teil nicht da, die Labels / Vertriebe hatten ihre Lager wegen Corona nicht voll besetzt oder sogar geschlossen, Veröffentlichungen wurden zurückgezogen. Es waren oftmals eine Menge Telefonate zu führen, bis eine Bestellung / Lieferung vorgenommen werden konnte, aber die Gespräche im Treppenhaus haben das alles voll rausgerissen. Viele unserer Kunden sind uns sehr liebe Leute die wir seit zehn oder zwanzig Jahren kennen. Und das muss einfach so sein.

Unsere Erfahrungen sind daher absolut positiv. Die Leute haben unsere Konzerte geschaut, Platten gekauft, Gutscheine bestellt. Es haben uns Leute angerufen und nach unserer Kontonummer gefragt und uns ohne Grund Geld überwiesen, teilweise Beträge, dass uns die Kinnlade runtergeklappt ist. Das waren größere Summen und ist ein Respekt für unsere Arbeit der letzten 20 Jahre.

Die Leute sagen, sie wollen, dass es weitergeht und einige Leute machen es mit einer bestellten Platte und andere mit größeren Summen. Jeder nach seinen Möglichkeiten, und das die Leute daran denken uns zu helfen ist das, was uns das Herz warm macht. Jetzt bekommen wir zurück, dass wir seit langer Zeit versuchen mehr in die Stadt hineinzugeben, als einfach nur einen Handel zu betreiben. Das haben wir jetzt in einem Ausmaß zurückbekommen, wo einem die Worte fehlen und man einfach nur Danke sagen kann für die Unterstützung und auch dankbar dafür ist, dass man, trotz dieser Scheißsituation, diese Art von Support erleben darf.

Wenn ich an unsere Kollegen der Theaterkasse Schumacher denke, die jetzt ein halbes Jahr keine Tickets verkaufen können oder unser Buddies von Rückkopplung, die hauptsächlich vom Backlineverleih für Konzerte etc. leben, ein Riesenlager haben und keine Konzerte mehr, dann ist das ganz ganz traurig. Und trotzdem machen diese Leute geile Sachen zurzeit. Das Bekommen nicht alle mit, aber auch die unterstützen gerade, trotz ihrer eigenen prekären Situation, andere in diesen Tagen. Leider bekommen sie weniger Solidarität, weil sie einfach nicht so sichtbar sind vielleicht und das ist bitter und wir wissen nicht, wie wir da helfen können. Theaterkasse Schumacher macht jetzt zum Beispiel einen großartigen Poster Verkauf, den man wirklich unterstützen sollte!

4. Welche Langzeitauswirkungen seht ihr derzeit durch die aktuelle Krise für euch und die allgemeine Lage von Bands/Acts, Labels und Musikschaffenden?
Was wir zurzeit machen ist „Learning by doing“. Es weiß keiner was passiert, auch bei den Plattenfirmen. Wir leben von Hamburgern und Touristen. Die Touristen bleiben weg, die Hamburger dafür in der Stadt. Es gibt keine Konzerte mehr. Es ist theoretisch mehr Geld dafür da, um es eventuell in Platten zu stecken, anderseits verlieren Leute Jobs, Aufträge, sind in Kurzarbeit und haben weniger Einkommen. Ich weiß es nicht. In dieser Situation stellt sich die Frage, was Kunst eigentlich ist und wofür sie da ist. Ich rede dabei über Kunst und nicht über Entertainment. Entertainment ist mir egal.

Ist Kunst jetzt in der Lage etwas auf die Beine zu stellen, dass Menschen hilft, ihnen Orientierung gibt auf einem Weg, wo wir alle nicht wissen, wo er lang geht und vor allem, wo er endet. Dafür ist meiner Meinung nach Kunst und vor allem auch Indie da. Jetzt sind die Leute gefragt. Ist Kunst wichtig? Jetzt geht es um Inhalte. Taugt es was, ist es was für Leute?

In Bezug auf die Livebranche ist jetzt die Politik gefragt. Konzerte können, wenn überhaupt jetzt nur noch in kleinerem Rahmen stattfinden. 500 Klubs können wahrscheinlich maximal 50 Gäste reinlassen, wenn überhaupt. Und hier ist jetzt eine Förderung notwendig, um die Kosten der Clubs zu decken und den Bands zumindest geringe Gagen zu ermöglichen. Für viele Clubs ist es ansonsten günstiger zuzumachen als zu öffnen. Um zumindest auf Selbsterhaltungsniveau zu arbeiten besteht meines Erachtens ein Förderbedarf für Clubs. Das wäre eine Maßnahme, die auch unten ankommt. Bei Clubs, bei Musikern, bei Mitarbeitern. Und wir müssen gucken was jetzt geht. Amerikanische und englische Bands werden zurzeit nicht rüberkommen und das ist eine Chance für deutsche Acts. Es gibt wahnsinnig gute Bands in Hamburg. Guckt nur keiner, interessiert ja kaum jemanden, da die nicht bekannt sind. Das ist jetzt eine Chance. Auch für die Clubs. Wollt ihr die Kultur vor Ort fördern?

5. Wie steht ihr persönlich zu Streaming-Diensten?
Das ist eine sehr komplexe Frage, da wir sowohl Plattenverkäufer als auch Musiker sind. Als Musiker muss man sagen, dass das Vergütungsmodell nicht akzeptabel ist. Das geht so einfach nicht, dass muss geklärt werden. Es kann nicht sein, dass Streaming dadurch billig sein kann, dass Schreiber von Songs und Texten / Rechteinhaber einfach kein Geld mehr bekommen. Die früheren Tonträgereinnahmen waren auch nicht riesig, aber das ist durch Streaming gekillt. Die Einnahmen durch Tonträger generell sind minimal, und Liveeinnahmen sind jetzt auch keine mehr möglich zurzeit.

Aber generell muss man sagen, Streaming ist halt da, die Kuh ist vom Eis, sich da drüber noch zu ärgern ist Quatsch. Streaming eröffnet viele neue und auch gute Möglichkeiten und den Weg muss man konstruktiv gehen.

Michelle Records 4 © Sebastian Madej

6. Auf welches neue Album freut ihr euch persönlich als nächstes und bei welchem erwartet ihr einen Verkaufsschlager bei euch im Laden?
Also ich freue mich auf die neue Clem Snide. Eine Band die ich total gerne mag. Ein unglaublich guter Texter, der die Band schon lange aufgelöst hatte, aber jetzt kommt etwas Neues. Und ein Verkaufsschlager? Keine Ahnung. Es gibt kaum noch die Themen wie früher, wo die Verkäufe im Laden total durch die Decke gingen wie Rolling Stones, Sisters Of Mercy usw..

Aber wir bekommen auch immer mehr neue Kunden, die sich aus persönlichen Gründen dafür entscheiden, den lokalen Plattenhändler aus Gründen zu unterstützen. Und natürlich bestellen wir den Leuten auch ihre Helene Fischer Platten sehr gerne. Wenn unsere Kunden aus den richtigen Gründen kommen, bestellen wir ihnen alles. Und wenn ein älterer Herr hier ankommt, und nach einer Hasi Osterwald Platte fragt, dann bestellen wir ihm die Platte und das machen wir total gerne, weil das bringt Spaß. Wir sind da extrem unelitär. Das Klischee des nerdigen Plattenladenverkäufers, der nur das gerne verkauft, was er mag, ist totaler Bullshit. Auch dank Streaming hatten wir noch nie so informierte Kunden wie heute und viele Kunden, gerade die, die auf spezielle Musik stehen, verstehen davon doch viel mehr als ich. Und ich, der eher „Generalist“ ist, brauche diese Leute, um weiterzukommen und finde das gut so, denn es bereichert mich.

Bei uns ist ein Platz wo vieles zusammenkommt und vieles zusammenkommen soll. Ich bin jetzt zum Beispiel eigentlich nicht so ein großer Pet Shop Boys Fan, aber wenn ich mich mit Kunde X darüber unterhalte, er mir viele Geschichten erzählt, ich mir dann die Musik anhöre, dann stelle ich fest, das ein oder andere Stück ist auf eine echt geile Art und Weise scheiße, also auf eine wirklich tolle Art und Weise. Ich bin einfach nicht derjenige, der entscheidet, was cool und was uncool ist.

Das immer wieder auftreten von unerwarteten Sachen ist das was hier passiert und was wir lieben. Und um es klar zu stellen, nein, wir haben den Echo damals nicht abgelehnt. Ich dachte nur es wäre ein blöder Werbeanruf und habe Telefon erstmal gleich wieder aufgelegt. Allerdings sind wir zwei Jahre später als Reaktion auf die Preisverleihung an die italienische Rechtsrockband Freiwild gleich wieder aus der Echo-Jury ausgetreten, in die wir gerade erst berufen worden waren.

Das wir jetzt zusammen durch die Krise gekommen sind, wobei wir natürlich auch Auseinandersetzungen darüber hatten, uns wieder zusammengerauft haben, wie wir mit dem allen jetzt umgehen usw., all das sind Sachen, die das hier täglich am Leben erhalten und uns das Gefühl von Sinnhaftigkeit geben.

Ich bin jetzt 55 und ich musste bisher noch nichts vernünftiges Arbeiten und das soll auch so bleiben.

Schaut doch gerne mal vorbei:

MICHELLE RECORDS
Gertrudenkirchhof 10

20095 Hamburg
Mo.-Fr.: 11-20 Uhr; Sa:11-19 Uhr
www.michelle-records.de/
www.facebook.com/michelle.records.hamburg

Sebastian Madej

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