MARTIN KOHLSTEDT – Track by Track

Foto-© J Konrad Schmidt

Martin Kohlstedt ist seit einigen Jahren einer der spannendsten Komponisten hierzulande, scheint ständig auf Tour oder im Studio zu sein und trotzdem werden seine Songs und Alben nur noch besser und besser. Nach Alben, die den Diskurs mit Elektronika und Chören als Gegenüber suchten, traut sich der in Weimar lebende Musiker bei seinem neuen Album eine Rückbesinnung auf den Kern: Solo Piano. Doch das Klavier ist nicht allein. Kohlstedt wohnt in ihm, nahm das Album zurückgezogen in seiner Dachgeschosswohnung auf, mit Blick auf Weimar, mit all den Vögeln, Winden, Regentropfen, dem Licht, mit der Geometrie und Tiefe, die diese Tage begleiteten und sich nun auf FLUR wiederfinden. Für uns hat er ein Track by Track zu den Hintergründen des Albums geschrieben!

1. LUN

FLUR beginnt mit einem Gute-Nacht-Lied. Jedenfalls war es als solches gedacht. Ich nahm nur diese eine Version auf und nun eröffnet und färbt die einzige Aufnahme, die es von LUN gibt, ein ganzes Album. Begonnen hat alles mit einer Geschichte für meine Nichten, in der eine 10cm große Heldin namens Lunaleen bei Sonnenaufgang zu einer Pflanze erstarrte. Sobald die Sonne wieder untergeht erwacht sie und erlebt jede Nacht ein anderes Abenteuer mit allen Tieren des Waldes, ihrem Reithamster Bilbo und ihrem Baumhaus in der alten Linde. Aber es ist nicht ganz so naiv geblieben, denn dieses Lied spielte ich auch auf der Beerdigung meiner Oma zur ewigen Ruhe. Komisch wie manchmal Kontexte zusammenwachsen. Aber genau diese Ambivalenz war ausschlaggebend die Tür ins Album zu öffenen.

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2. ZIN

Da hinter meinen Alben Gesamtkonzepte ruhen, sind alle Stücke miteinander verbunden. ZIN greift die Zeitlosigkeit von LUN auf und beginnt sie zu rastern. Die Musik fängt an zu laufen, fällt jedoch immer wieder in sich zusammen und richtet sich dann wieder auf. Am Ende der Aufnahme begann es zu regnen und ich habe Mutter Natur zu mir sagen hören: “Das wars schon, es ist im Kasten, du brauchst nicht weiter nach dem Sinn bohren.”

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3. QUO

Auf jedem meiner Alben gibt es ein QUO: Ein bescheidenes, fast schon demütig introvertiertes Stück, das dennoch kurz zu träumen wagt und sich dann wieder in sich zurückzieht. QUO führt eigentlich ein einseitiges Leben in täglicher Routine. Manchmal brauche ich solche “Ausgangsstücke” um genau in diesen ein voll ausgefahrenes Klischee zu erlauben. Der Refrain geht so weit auf weil der absolute Kontrast dazu auch im Stück vertreten ist. Ich erlaube mir das komplette loslassen. Irgendwann kommt der Tag, da kann ich das vom ersten Ton an.

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4. PAN

Kaum ein Stück auf FLUR steht so sehr für dieses Album wie PAN. Es wird zum Schlüsselmoment, weil die Ruhe, die Schönheit und das Innehalten von PAN zum Assoziationsraum Wald werden, der FLUR ausmacht. Weil es gar nicht so sehr um den Schritt selbst geht, sondern um den Moment davor. Was hier so groß klingt ist auch genau so gemeint, ab hier versteht das Album (also ich), welche Richtung es annehmen will. Es gewinnt eine bahnbrechende Erkenntnis und trifft somit die erste handfeste Entscheidung.

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5. NOX

Es wäre zu einfach, die erste selbstbewusst getroffene Entscheidung zweifelsfrei durchgehen zu lassen. Unsicherheit macht sich breit über bestehende Verhältnisse, alles wird noch einaml in Frage gestellt. NOX stellt genau diesen unerklärbaren Einfluss vom Außen dar, der felsenfeste Behauptungen wieder zu Staub zerfallen lassen kann, die nicht definierbare Masse auf der anderen Seite – Antimaterie.

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6. XEO

Das freie Gefühl nach dem Kampf. Das eigentlich selbstbewusstere als zuvor. Sieg oder Niederlage machen den Braten nicht mehr fett. Mit blauem Auge und blutender Lippe sitzen alle Parteien am Bordsteinrand und formieren sich neu. Hier beginnt FLUR aus Sehnsüchten Klarheiten zu machen, das Album beginnt hier aufs neue. Die klare Architektur des Stückes im Verlauf in fließendes Licht zu transformieren, ganz bewusst und mit Sicherheit eine Tür zu öffnen und hindurchzugehen, alle anderen Optionen aufzugeben. Und eben nicht zum Beginn des Stückes zurückzukehren, sondern der Neugierde Raum zu geben.

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7. RUL

und wieder nimmt das Album Fahrt auf, ganz wie in der ersten Hälfte. Dieses mal entschlossener, aber eben auch unverbissener. Alle Verkrampfungen sind gelöst und das Leben geht ungebremst weiter. RUL zelebriert das einfach nur.

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8. VIA

Anders als im ersten Versuch traut sich VIA nun schon mehr in Sachen Freiheit. Das Stück kam ganz locker dazu und braucht nicht wie QUO eine sumpfige Tagesroutine um zu existieren. VIA ist für mich das Gefühl auf einem neuen, saftig grünen Planeten anzufangen, mit eigenen Regeln und dem Wissen um die ersten sieben Stücke auf FLUR.

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9. JUL

JUL begleitet mich schein seit vielen Jahren, kam immer wieder zum Vorschein, wenn sich Dinge grundlegend veränderten und nach Aufbruch anfühlten, fand aber nie eine Form. Aber FLUR schafft es den notwendigen Kontext zu bieten und so wird das Stück zur Lichtung auf dem Cover – der Aufbruch. Sämtliche Rüstungen sind abgelegt, die Freiheit von VIA längst zur Sicherheit konvertiert. Die Zufriedeheit um das Wissen, dass man nur ein Minimüh vom Ganzen ist. JUL ist das eigentlich letzte Stück von mir auf dem Album und somit endet die Geschichte mit einem Anfang. Genau so wie LUN schon auch ein Ende war.

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10. AJA

Das aller letzte Stück schrieb Mutter Natur, oder Gott, oder Aquaman höchstpersönlich. Ich habe einfach nur den Stecker aus Raum und zeit gezogen und das Bild zuende gemalt.

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Dominik

Bedroomdisco-Gründer, Redaktions-Chef, Hans in allen Gassen, Golden Leaves Festival Booker, Sammler, Fanboy, Exil-Darmstädter Wahl-Hamburger & happy kid, stuck with the heart of a sad punk - spreading love for great music since '08!

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