BROCKHAMPTON – The Family / TM

Foto-© Lucas Creighton

United we stand, divided we fall
I’m sorry homie but that don’t apply to us at all
The next chapter is everything
That’s my promise to y’all

(Brockhampton – Take it Back)

Im Sommer 2016 veröffentlichte Frank Ocean nach monatelangem Warten seiner Fans das überkonzeptionelle Cross-Media-Album Endless. Nur einen Tag später stellte sich heraus, dass er damit lediglich seinen Plattenvertrag erfüllt hatte. Das eigentliche Album, selbst produziert und verlegt, droppte ohne Ankündigung und schlug ein wie eine Bombe. Blonde zementierte Ocean als Vorreiter einer neuen Rap-Generation.

Die Erinnerung an diese Veröffentlichungsscharade kommt heute wieder vielen in den Sinn. Für ihr „letztes Album“ zeigten Brockhampton nämlich ein ähnliches Kunststück. „They f***ing frank oceaned us”, lautete am 17.11. einer der beliebtesten Kommentare im Reddit-Forum der Band. Vorausgegangen war ein Instagram-Post der Band, der die Promotion für das eigentlich angekündigte Album The Family mit einer nicht ganz subtilen Ankündigung verband.

Überraschung geglückt. Dass das Label nicht nur Bescheid wusste, sondern sogar für beide Alben verantwortlich ist, macht die Geschichte dabei nur ein klein wenig schlechter. Ansonsten ist die Ergänzung des Albums The Family (17.11.) um TM (18.11.) nämlich ein Volltreffer. Aber der Reihe nach:

The Family

Ohne das Wissen um TM liest sich die Geschichte von The Family folgendermaßen: Die Band ist Geschichte, alle längst zu neuen Projekten aufgebrochen, aber es soll noch ein paar Abschiedssongs geben. Also macht sich Kevin Abstract, Leader und häufig selbsternannter Kleber der Band, mit Producer Bearface an die Arbeit.

Dementsprechend viel geht es auf den Tracks um Brockhampton, ihre Geschichte und ihr Ende. Mit treibenden Beats, stark variierenden Instrumenten (ist das eine Flöte?) und aggressiven Versen tobt sich Abstract aus. Dabei rappt er über seine Rolle als Gründer und Kopf der Band (Take it Back), die Medienfurore um Skandale und die Trennung (Big Pussy) oder aufdringliche und toxische Fans (Basement).

Es ist ein sehr selbstbezogenes, aber auch intensives Kevin-Abstract-Feuerwerk, das auf den 17 Tracks gezündet wird. Kaum einer der Songs ist länger als 2 Minuten und bis zum Ende bleibt Kevin allein am Mikro. Viele der Beats und Texte profitieren von der Knackigkeit, aber musikalisch will keine der vielen Ideen so richtig verfangen. Dabei wäre das dringend nötig, wenn man sich schon so oft für das Beinahe-Skit-Format entscheidet. Highlights finden sich ironischerweise vor allem dort, wo The Family am größten, am vollständigsten klingt: RZA ist eine Hymne auf das letztliche Scheitern von Abstract und Brockhampton: „Be like your mom and keep the band together“, lautet die leere Mahnung an sich selbst. Viel Sarkasmus, viele Anspielungen – so macht ein Abgesang dann doch Spaß.

Auch die einzelnen klassischen, sentimentalen Nummern, die Kevin Abstract ganz im Sinne seiner Solo-Musik hält, funktionieren auf dem Album einwandfrei. Insbesondere von Any Way You Want Me wünschen wir uns eine Langversion.

Letztlich lässt die Zusammenstellung von Gedanken und Rückblicken einen jedoch etwas unvollständig und unbefriedigend zurück, wenn der letzte Song Brockhampton vorbei ist. Darauf verabschiedet sich Abstract von den diversen Mitgliedern und Epochen der Band, aber sein Goodbye bleibt unbeantwortet. Das wäre vielleicht auch das ehrlichere Ende für die Gruppe gewesen. Aber dann kommt die Zugabe.

Brockhampton – The Family
VÖ: 17. November 2022, Sony Music
www.brckhmptn.com
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TM

Auf TM kommt alles, was Brockhampton musikalisch und lyrisch ausmacht, noch einmal zusammen: Die 37 Minuten klingen verletzt, reflektiert, mutig, spielerisch – und das quasi perfekt. Das Album, das schon vor über einem Jahr aufgenommen, aber nie fertiggestellt wurde, hat Producer und Bandmitglied Matt Champion aus dem Schrank geholt und uns ungefragt auf den Tisch geknallt.

Vieles von dem, das auf The Family verständlicherweise fehlt, kommt hier zurück. Wie zuletzt auf Ginger (2019) wechseln sich R&B-Balladen und Hip-Hop-Banger ab. Die aufs Wesentliche reduzierte Produktion erinnert an noch frühere Projekte der Band, und fügt sich perfekt in das Thema der Retrospektive ein. Alles klingt ein wenig so, als wären Brockhampton schon auf dem Weg nach draußen. Insgesamt hätte der finalen Version etwas weniger Hall gutgetan, ansonsten ist es beeindruckend, wie roh und vollständig der Klang auf TM gleichzeitig sein kann.

Die ersten Songs, vor allem das atmosphärische Animal bringen zum ersten Mal das Thema der Verlorenheit auf („I just need somethin’ that’ll make me feel“), mit schweren Bässen und einem wunderbar schwermütigen Ende.
Dann nehmen Kevin, Matt, Joba und Dom McLennon, die sich auf TM die Hauptrolle teilen, Fahrt auf. In der Mitte des Albums finden sich drei prototypische Brockhampton-Hits: New Shoes mit seinen extraschnellen Versen und cheeky attitude scheint direkt aus der Saturation-Trilogie in die Gegenwart gereist zu sein. Keep It Southern belohnt das Warten nach dem ersten Verse mit einem Ohrwurm voller so leichter Dancehall-Anleihen, dass man diesen Hit perfekt genießen kann. Und dann wird es noch tanzbarer auf Man On The Moon, das mit seinem Tempo und dem melodischen Gesang von Abstract eine fantastische Abwechslung auf dem Album bietet. Die Synthesizer werden vielleicht etwas überbedient, aber auch sie müssen sich ja gebürtig von der Band verabschieden.

Denn spätestens auf der zweiten Hälfte von TM deutlich, wo wir uns befinden: auf den letzten Zentimetern einer Abschiedsreise. Und die verläuft nicht friedlich, sondern schmerzhaft. Das zeigt am besten Crucify Me. Ein Groove voller Soul, Verses von Joba, Matt & Kevin, reflektierende bis fatalistische Texte („Let’s rewind and pretend, That we both knew what we were in for”) und ein verstörendes Ende am Klavier. Die Reise endet dann endgültig mit Goodbye, auf dem sich Kevin Abstract passenderweise im Hintergrund hält und die Gruppe die „best time of our lives“ mit einem Q-Lazzarus-Sample beendet.

TM ist kein Abschiedsalbum geworden, den Part liefert The Family. Stattdessen können Fans hier noch einmal ein Best of Brockhampton hören, bei dem jeder Song auf seine eigene Art sitzt. Die Dynamik zwischen so verschiedenen, eigenwilligen Künstlern überzeugt immer noch, die Ideen sind kreativ aber zugänglich, und ein wenig vorauseilende Wehmut tut den Rest.

Brockhampton – TM
VÖ: 18. November 2022, Sony Music
www.brckhmptn.com
www.facebook.com/brckhmptn

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Phillip Kaeding

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