FEIST – Multitudes


Foto-© Mary Rozzi

To sleeping innocent minds
It happens at the break of day
Before your wits are gathered
Even before you are awake
Your thoughts will find a clock to wind
And put dissent into your ear
Even before your eyes are open
The plot has thickened ’round your fears

We borrow trouble
Seems we all know how
It’s an expression from the old days
But even more true now
We borrow trouble
We even borrow time
Like you don’t have enough of your own
Now you want some of my
Trouble

(Feist – Borrow Trouble)

Es war ruhig geworden um Leslie Feist, die als Popmusikerin seit über 20 Jahren nur mit ihrem Nachnamen firmiert. Nach ihrem sechsten Studioalbum Pleasure (2017), das in Deutschland wieder in die Top 15 ging, in den USA und im UK aber weniger erfolgreich als gewohnt war, hörte man nicht mehr viel von der kanadischen Sängerin mit der ätherischen Stimme. Jetzt hat der kreative Stillstand ein Ende – mit dem feinen neuen Album Multitudes und mehreren Interviews, in denen sich Feist auch über die Gründe für ihren Rückzug äußert.

Seit Pleasure sind sechs Jahre vergangen (in der Popmusik bekanntlich eine kleine Ewigkeit) – mit einschneidenden Erlebnissen: Eine Tochter trat in das Leben der mittlerweile 47-Jährigen, und ihr Vater starb – nicht zu vergessen die Pandemie mit all ihren Auswirkungen. Trotzdem, so stellt Feist im Gespräch mit dem Rolling Stone (April-Ausgabe) über Multitudes klar: “Auf dem Album geht es jedenfalls nicht darum, wie es ist, Mutter zu sein. Es ist keine Platte über Elternschaft und auch keine Platte über den Tod meines Vaters. Das war so ein großer Einschnitt. Zu groß, um ihn einfach zu einem Teil des Puzzles meiner Kunst zu machen.”

Man wird sich also schwer tun, die Texte der zwölf neuen Lieder mit Feists Leben der vergangenen Jahre konkret in Verbindung zu bringen. “In dem Song Become The Earth geht es wohl am ehesten direkt um das Ende des Lebens”, erzählt sie. “Den habe ich allerdings geschrieben, bevor mein Vater gestorben ist. Es gab diesen Moment, als ich meine Tochter das erste Mal in meinen Armen hielt, in dem ich mein eigenes Ende gefühlt habe.” Eher geht es hier um Gefühle, Gemütszustände, Selbstbetrachtungen (Of Womankind), auch Trost (Song For A Sad Friend). Und manches in den Lyrics bleibt, wie schon früher bei dieser klugen, sensiblen Künstlerin, eben auch mal rätselhaft und offen für unterschiedliche Interpretationen.

Musikalisch ist Multitudes keine radikale Abkehr von früheren Feist-Produktionen – eher eine gelungene Variation von Erfolgsalben wie The Reminder (2007) und Metals (2011). Allerdings sind nach dem aus Beats, geschichteten Vocals, Gitarrensolo und Streichern gebastelten Opener In Lightning die naturbelassenen, überwiegend akustischen Arrangements klar in der Überzahl. Schon das anschließende Forever Before konzentriert sich auf den Gesang der Kanadierin zu sanfter Gitarre und etwas Klavier. Überhaupt stehen Feists Akustische und ihre schöne, klare Stimme so sehr im Mittelpunkt wie selten zuvor.

“Ich hatte nur eine Nylonsaitengitarre, und so habe ich alles in aller Stille und mit den Nylonsaiten geschrieben”, sagt sie im Rolling Stone-Interview. “Und irgendwie brachte das wirklich etwas Neues in das Songwriting. Denn es ging um die eigentliche Form des Songs. Wie kann ich mit den Akkorden selbst Spannung erzeugen oder Spannung abbauen?” Außerdem habe sie “mehr Komplexität als in der Vergangenheit zugelassen, ohne dass es kompliziert wird”.

Besonders gut gelingt das im mediterran flirrenden, wunderschönen Love Who We Are Meant To oder in den erhabenen Folkpop-Songs Forever Before, Of Womankind, Martyr Moves und Song For A Sad Friend. Hier merkt man Feist die Beschäftigung mit Vorbildern wie Nick Drake (1948-1974) an, zu dessen hochklassigem Tribute-Coveralbum The Endless Coloured Ways (VÖ: 07.07.2023) sie den ikonischen Song River Man beisteuerte. Das eingängige Borrow Trouble erinnert noch einmal an die Popstar-Qualitäten dieser Sängerin, die man seit dem Hit 1234 kennt.

Gemeinsam mit ihren langjährigen Kreativpartnern Robbie Lackritz und Mocky sowie Blake Mills (Bob Dylan, Fiona Apple, Perfume Genius) und Joseph Lorge als Mixern ist Multitudes Stück für Stück entstanden – wohl ganz bewusst nicht als spektakuläres Statement nach dem Motto: Alle mal wieder herschauen, ich bin sowas von zurück! Dafür hat Leslie Feist vermutlich inzwischen zu viele Dinge erlebt und verarbeitet, die subjektiv und objektiv wichtiger waren als ein großes, glitzerndes Comeback mit Pauken und Trompeten. Einfach schön, dass sie jetzt wieder da ist – mit einem echten “Grower” von Album.

Feist – Multitudes
VÖ: 14. April 2023, Polydor
www.listentofeist.com
www.facebook.com/feist

YouTube video

Werner Herpell

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