ST. VINCENT – All Born Screaming


Foto-© Alex de La Corte

On the street I’m a kingsize killer
I can make your kingdom come
On my feet I’m an earthquake shaking
So open up my little one

Hey, what are you looking at?
Who the hell do you think I am?
And what are you looking at?
Like you never seen a broken man

Lover nail yourself right to me
If you go I won’t be well
I can hold my arms wide open
But I need you to drive the nail

Like, what are you looking at?
Well, who the hell do you think I am?
Hey, what are you looking at?
Like you never seen a broken man

(St. Vincent – Broken Man)

Wie ihre Chamäleon-Vorbilder David Bowie und Prince lässt sich Annie Clark aka St. Vincent einfach nicht fassen, nicht in eine bestimmte Stil-Schublade stecken – und wird somit auch nach fast 20 Solo-Jahren im Musikbusiness nie langweilig. Der Schwenk vom smarten, coolen, teils federleichten Seventies-Soulpop des Vorgängers Daddy’s Home (2021) zum wuchtigen Electro-Rock mit Einflüssen von Industrial bis Reggae auf ihrem neuen Album All Born Screaming ist jedenfalls mal wieder erstaunlich. Und – bei einer so genialen Künstlerin ist das wiederum keine Überraschung – glaubwürdig und kompetent umgesetzt.

Besonders als Sängerin glänzt Clark hier mit so vielen Facetten, dass man ihre Leistung kaum mit dem noch etwas schüchternen Vortrag der ersten St. Vincent-Alben Marry Me (2007) und Actor (2009) zusammenbringt. Beispiel Violent Times: Falls es jemals wieder einen 007-Film mit dafür notwendigem Eröffnungssong geben sollte, kommt man an einem Lied der Drama- und Power-Preisklasse von St. Vincent für den oder die neue(n) Bond eigentlich nicht vorbei. Ganz großes musikalisches Star-Kino, inklusive mächtigem Gebläse.

Natürlich zeigt sich Annie Clark auch als Gitarristin wieder von ihrer besten Seite – etwa in Sweetest Fruit oder in So Many Planets mit knappen, rohen, ungeheuer prägnanten Ausbrüchen an der Sechssaitigen, wie sie nur wenige Musiker (ob Männer oder Frauen) an diesem Instrument hinbekommen. Dass “da auch so etwas Böses, Aggressives und Abgründiges in Clarks Gitarrenspiel lauert”, stellt das Label Virgin völlig zu Recht fest – und verweist darauf, dass “ihre Noise-Band während der College-Zeit auf den Namen Skull Fuckers hörte”.

“Es gibt da dieses Gefühl: Ich will alles … weil ich nichts fühle”, sagt Annie Clark über ihren emotionalen Zustand bei der Produktion des teilweise beängstigenden Klangbildes von All Born Screaming. “Ich bin beraubt. Ich bin verliebt. Aber ich will zugleich noch mehr Liebe. Auf dieser Platte gibt es keine Drogen, auch keine Abstraktion. Stattdessen geht’s direkt zur Sache, rein ins Fleisch, rein in diesen Lebenshunger, auch wenn’s brutal wird. Denn das Leben ist schließlich brutal.“ Schon der Albumtitel bezieht sich ja darauf, dass jedes Leben mit wüstem Geschrei beginnt, sobald der Mensch auf diese Welt losgelassen wird (beziehungsweise sie erdulden muss). Der Opener heißt folgerichtig Hell Is Near, der zweite, ähnlich heftige Song Reckless, der dritte, ebenso gnadenlose Track Broken Man. Puh….

All Born Screaming, gewissermaßen das “Black Album” von St. Vincent, ist die erste Studioplatte, die Clark komplett selbst produziert hat, nachdem sie bei sämtlichen Vorgängern als Co-Produzentin beteiligt war. “Bei dem hier musste ich einfach ganz allein durch die Flammen gehen”, meint die 41 Jahre alte Multiinstrumentalistin aus Tulsa/Oklahoma. „Anders hätte diese Suche zu nichts geführt. Ich musste allein mit mir selbst in einem Raum sitzen, drauflos singen, mit modularen Synthesizern herumspielen, Knöpfe drehen, Stromflüsse umleiten, und dann diese sechs Sekunden ausfindig machen, in denen alles passt – um daraus dann einen ganzen Song zu bauen.” Und sie zitiert ihr bereits erwähntes Chamäleon-Idol: “Wie Bowie schon sagte: Wenn du das Gefühl hast, dass deine Füße den Boden nicht ganz berühren – dann bist du am richtigen Ort, um etwas Aufregendes zu tun.”

Ganz allein war St. Vincent freilich nicht, um “etwas Aufregendes zu tun”. Dabei half ihr “ein kleines, eingeschworenes Abrisskommando, eine kuratierte Gruppe von absoluten Rippern”: Zum Beispiel saß bei Broken Man und Flea Dave Grohl von Nirvana und den Foo Fighters am Schlagzeug. “Dave ist einfach einer der größten Schlagzeuger aller Zeiten … weil er auch ein grandioser Songwriter ist”, sagt Clark voller Respekt. “Ich sitze im Stuhl, höre den ersten Take – und muss sofort aufstehen. Mir stehen die Haare zu Berge.“ Außerdem schauten der neue Foo Fighters-Drummer Josh Freese, Justin Meldal-Johnsen (Bass), Rachel Eckroth (Keys), David Ralicke (Blasinstrumente), der Jazz-Schlagzeugvirtuose Mark Giuliana und Stella Mozgawa von Warpaint (ebenfalls an den Drums) im Studio vorbei. Und nicht zuletzt am Bass und als Ratgeberin Cate Le Bon (die schon das neueste Wilco-Album Cousin im Vorjahr so ungemein bereichert hatte).

Ist All Born Screaming am Ende ein abweisendes oder unzugängliches Album? Keineswegs. “Ich habe vermutlich einen ziemlich großen Umweg genommen, um das mit dieser Platte zum Ausdruck zu bringen, aber letzten Endes ist es ein sehr düsteres Album über die Liebe”, sagt Annie Clark. “Da ist so viel Liebe in meinem Leben. Ich bin echt glücklich. Was das angeht, bin ich nicht mehr die Ratte im Labyrinth.” Es beruhigt dann doch einigermaßen, dass auch diese tiefdunkel schimmernde Platte wieder nur eine neue Verwandlungsstufe markiert. St. Vincent bleibt unvorhersehbar und damit enorm spannend.

St. Vincent – All Born Screaming
VÖ: 26. April 2024, Virgin Music
www.ilovestvincent.com
www.facebook.com/St.Vincent

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Werner Herpell

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