Foto-© Scarlett Carlos Clarke
And now I see it clear with every passing of each year
I deserve to be here
And every time I fall, I crawl back like an animal
My focus is powerful
(Self Esteem – Focus is Power)
Der Name Self Esteem, der Alias, unter dem die britische Singer-Songwriterin Rebecca Lucy Taylor ihre Alben veröffentlicht, ist Programm: Sie ist mittlerweile bekannt für intelligenten, feministischen, stylischen und doch introspektiven Alternative Pop, stets mit einem Einschlag ihres typisch britischen trockenen Humors. Daher wird ihr drittes Album auch mit Spannung erwartet, gerade in diesen hochkomplizierten Zeiten, in denen besonders Frauen – gelinde gesagt – mit vielen Herausforderungen, Erwartungen und ungefragten Meinungen konfrontiert sind. Dementsprechend könnte das Timing von A Complicated Woman auch nicht besser sein. Die Selbstreflexion einer komplizierten und selbstbewussten Frau, nicht ohne verschmitztes Augenzwinkern, wird schon vom Albumcover angekündigt, auf dem Taylor im puritanischen Look der Pilgerväter bzw. als Pilgerfrau abgebildet ist, scheinbar einen Urschrei loslassend. Die Symbolik ist eindringlich: Eine schlichte und konservative Hülle und der Kontrast von explosiver Kraft und Emotionalität, Demut und Aufbegehren, die sich gegenüberstehen. Taylor bleibt sich musikalisch treu, entwickelt ihre Kernthemen aber mit viel Experimentierfreude weiter und wagt sich in noch komplexere Gefilde. Ihre typischen Markenzeichen durchziehen das Album: Treibende Drums, glasklare Vocals, Electro-Einschläge, ironische und doch tiefschürfende Texte und eine unverkennbare Mischung aus Coolness, Nahbarkeit, Humor und Nachdenklichkeit.
Ästhetisch spannend ist auch, dass die Videos der ersten drei Single-Auskopplungen (Focus is Power, 69 und If Not Now, It’s Soon) alle im gleichen ‚Universum‘ zu spielen scheinen, bzw. im selben Setting mit denselben Figuren in einer Art musikalischer Selbsthilfegruppe. Das erzeugt Kohärenz und Kontinuität und lässt das Ganze therapeutisch wirken, wie jemand, der in einem Kollektiv verschiedene Emotionen durchzuarbeiten versucht, was letzten Endes ja auch der Kern des Musikmachens ist. Das Album fühlt sich dadurch äußerst verletzlich und gleichzeitig bestärkend an. Es ist ein bisschen, als würde man jemandes Tagebuch lesen, die Texte sind ehrlich, zugewandt, gesprächig und reflektiert.
Focus is Power ist dabei eine berückende und erhebende Ballade, mit empowernden Lyrics und einem starken weiblichen Chor. If Not Now, It’s Soon ist ähnlich, aber noch verträumter; es geht darum, Sicherheit und Freiheit in sich selbst zu finden. Auch I Do And I Don’t Care hat eine chorale und befreiende Qualität, mit einem soften Beat und einer Art Lebensbeichte, einem Monolog darüber, wie schwierig es ist, aufrichtig und ohne Entschuldigungen man selbst zu sein, und nicht mehr dem Glück hinterher zu jagen, sondern einfach Frieden und Stille zu suchen. Musikalisch in eine ganz andere Richtung gehen Songs wie 69, eine tanzbare Party-Hymne, düster angehaucht und auf den ersten Blick unnahbar, die sich aber dann mit den modernen Erwartungen an Sex und Intimität beschäftigt, mit Taylors typisch sarkastischem Humor. Auch Mother und Lies sind eher zynische Abrechnungen, musikalisch mit Electro-Einschlägen und pulsierenden Basslines untermalt, die auch in Clubs passen würden.
The Curse handelt von der Schwierigkeit von sozialen Verpflichtungen und hat eine gewisse funkelnde R’n’B-Grandiosität. Cheers To Me schöpft die lyrische Dissonanz voll aus und verpackt eine Abrechnung mit unausgewogenen und enttäuschenden Beziehungen in heiteren Bubblegum-Pop. Auch Zorn und Verzweiflung haben ihren Platz und werden in einem Spoken-Word-Gastbeitrag von Monchild Sanelly in In Plain Sight kraftvoll zum Ausdruck gebracht.
A Complicated Woman reflektiert die vielschichtigsten Emotionen, ist aber insgesamt trotzdem durchzogen bzw. bestimmt von einem erhebenden Ton und immer wiederkehrenden choralen Arrangements; und das, obwohl man als Frau momentan durchaus sehr wütend und verzweifelt sein könnte. Das Album passt zu einer Welle an Comebacks weiblicher Künstlerinnen wie z. B. Lady Gaga oder Kesha, die sich nicht direkt am Tagespolitischen abarbeiten und eher auf die Irrungen und Wirrungen der Welt reagieren, indem sie sich introspektiv zurückziehen, ihre eigenen Identitäten, Fragen und Unsicherheiten ästhetisch verhandeln und ihre Verletzlichkeit zugänglich machen. Manchen mag das vielleicht wie Eskapismus vorkommen, macht die Werke aber auch zeitloser und universeller als die schnelllebigen News-Zyklen mit ihren immer neuen täglichen Katastrophen und Empörungen. Außerdem kann es seine ganz eigene Kraft entfalten, in diesen Zeiten Ehrlichkeit und Connection zu priorisieren, ganz im Sinne des Privaten, das auch immer politisch ist. Am Ende von A Complicated Woman kommt man gemeinsam mit Taylor an beim Deep Blue Okay, der Stille, dem Frieden mit sich selbst, in einer gemessenen Euphorie, mit dem Glauben, dass alles okay sein wird; darin liegt der Kern des Albums, in einem realistischen Optimismus, nicht als Realitätsflucht, sondern als einzige nachhaltige Option: Selbstvertrauen als Widerstand.
Self Esteem – A Complicated Woman
VÖ: 25. April 2025, Universal Music
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