NEUFUNDLAND – Scham


Foto-© Jean Raclet

Ich hab geglaubt an den aller größten Schrott
An den Himmel und die Rente und den atomaren Schock
Ich hab geglaubt an alles was mich lockt
An das Warten und das Hoffen und den lieben, lieben Gott
Ich hab geglaubt an diese eine Liebe
An das immer Weiterziehen und das sich niemals verbiegen
Ich hab geglaubt an Cola ohne Zucker,
An Leben ohne Angst an Strom, an Geld, an Martin Luther.
Alles Lüge

(Neufundland – Alles Lüge)

Erröten ist eine natürliche Reaktion des Körpers und wird oft durch Stress ausgelöst. Hervorgerufen durch den täglichen Gang in den 4. Stock, der zu teuren Altbauwohnung im angesagten Szeneviertel, oder dem gezielten Work-Out, bei dem man sich selbst versucht wieder einmal an seine Grenzen zu bringen, bevor man schnaufend und doch viel zu früh aufgibt. Aber man errötet nicht nur bei körperlicher, sondern auch bei geistiger Anstrengung, wie dem Gefühl von Scham. Scham stellt sich ein, wenn man sich, vor allem in moralischer Hinsicht, darüber bewusst wird, nicht richtig gehandelt zu haben. Neufundland, die ihr zweites Album, das am 31. Mai erscheint, nach diesem sehr übergeordneten Gefühl betiteln, gehen sogar so weit die Scham als Ozonschicht des Individuums zu bezeichnen, die sich wie eine Hülle um die Würde legt und die man erst bemerkt, wenn es zu spät und die Verletzung erfolgt ist. Dabei lässt die Scham einen sofort spüren, was falsch ist und sie zu vermeiden, befähigt einen sehr sorgenfrei durchs Leben zu gehen. Alles andere als Sorgenfrei geht es aber auf der neuen Platte zu, denn die Kölner Indie-Band arbeitet sich lieber durch die psychologischen Aspekte, die die Scham als Werkzeug von Macht beschreibt, was die Ausgangslage ihrer Texte bildet.

Im Song Männlich blass hetero referiert Sänger Fabian Langer über die eigenen männlichen Privilegien, die einem bis heute quasi die Welt zu Füßen legen. Ein Unding, das mit frivol selbstironischer Art und Weise ausgearbeitet wird. Mit Disteln wird das politische Ziel verfolgt, unsichtbar zu sein und sich dennoch gegen neoliberale Imperative wehren zu können. So wie die Distel eben, ein unnützes Unkraut, so unnütz und doch so standhaft auch die falsche politische Grundhaltung. Auch Hochwassertouristen übt Kritik an der Gesellschaft, hier allerdings mit Fingerzeig auf die Allgemeinheit gerichtet, die mit ihrem Katastrophentourismus, ihrer Meinung nach, die Welt zu Grunde richten.

Dabei wollen sie bewegen und beweisen, dass Popmusik nicht nur mit Blümchenkette im Haar stattfinden muss. Sie wollen Inhalte vermitteln, ja vielleicht sogar Massen bewegen. Zwischen Geschlechterrollen und der umtriebigen Machtgier der westlichen Gesellschaften hinterlassen die fünf Musiker aber nach ihren 12 Songs leider nur verbrannte Asche. Zwar geben sie sich sehr viel tiefgründiger als noch in ihrem Debüt vor 1,5 Jahren, doch alles wirkt ein wenig vorhersehbar. Wie in Alles Lüge auf das eigene Fehlverhalten hingewiesen zu werden ist zwar ganz nett, doch die Röte wird einem dabei leider nur in die Wangen getrieben, wenn man sich die Platte auf dem Weg in den 4 Stock anhört. Auf ein Happy End wird man leider die ganze Zeit vergebens warten. Gesellschaftskritik wird gerne genommen, doch dann bitte mit einer kleinen Sahnehaube namens Optimismus.

Neufundland – Scham
VÖ: 31. Mai 2019, Unter Schafen Records
www.neufundland.fm
www.facebook.com/neufundlandmusik

Neufundland live:
15.06. Wolfenbüttel – Summertime Festival
12.-13.07. Straubenhardt – Happiness Festival
18.-21.07. Cuxhaven – Deichbrand Festival
01.-03.08. Elend bei Sorge – Rocken am Brocken
11.10. Halle – Objekt 5
22.10. Dresden – Ostpol
24.10. Berlin – Badehaus
25.10. Hamburg – Molotow
26.10. Osnabrück – Kleine Freiheit
30.10. München – Ampere
02.11. Passau – Zauberberg
13.11. Wiesbaden – Schlachthof
14.11. Erfurt – Engelsburg
15.11. Göttingen – Nörgelbuff
16.11. Köln – Gebäude 9


Susan

Susan wohnt in Hamburg und wollte früher hauptberuflich Groupie werden, bis ihr ein Exfreund einen Song auf Myspace widmete. Der hat bis heute 200 Klicks. Von ihr.

Mehr erfahren →