OEHL – Track by Track

Foto-© Alexander Gotter

„Rilke ist seit über 70 Jahren tot, man muss also niemanden etwas zahlen. Wenn man von Popmusik erwartet, mit werbeähnlichen Plattitüden oder mit Poesiealbum-Prosa bedient zu werden…Ich setze Erwartungen lieber höher. Wenn man heute Autoren als Raubritter bezeichnet, dann suche ich lieber in Schätzen aus Hunderten Jahren deutscher Sprache und bediene mich nicht im Elektronikladen um die Ecke.“

In dieser Aussage von Oehl liegt eine klare Ansage, die sich gut in Hinblick auf ihr Debütalbum Über Nacht, das wir hier sehr gelobt haben, verstehen lässt: Sie haben Ansprüche an und Vorstellungen von der Kunst, die sie machen, meinen ernst was sie tun und nehmen sich selbst ernst dabei. Der Unterschied zwischen ihnen und vielen anderen Deutsch-Pop-Debütanten ist, dass sie das auf ihrer ersten Platte schon gleich 11 Stücke lang beweisen. In Über Nacht liegt der sprachliche Zauber einer vergangenen Zeit und musikalisch kreative Feinarbeit, die paradoxerweise 2020 bei allen zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten gar nicht mehr selbstverständlich ist. In unserer Track by Track-Reihe stellen die beiden die Songs ihres Albums vor:

Bisher

Wir wollen das Album Über Nacht mit einer zarten Einleitung beginnen.. Wie ein „Was bisher geschah“ in einer Fernsehserie, in der Tonalität sehr melancholisch und eigentlich mehr die Skizze eines Songs – bevor es richtig losgeht.

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Keramik

Das Lied hat Ariel zur Geburt seines Sohnes geschrieben. In ihm stecken die Gefühlslagen eines werdenden Vaters.. Überschwängliche Freude, Hoffnungen, Sorgen und Ängste. Irgendwann hat Casper Keramik entdeckt und es auf Social Media Song des Jahres genannt. Letztlich hat auch Herbert Grönemeyer davon Wind bekommen, weshalb wir mit ihm auf Tour gefahren und jetzt beim deutschen Label Grönland untergekommen sind. Es wird also immer eine besondere Bedeutung für uns haben. Außerdem singen Mwita Mataro von At Pavillion und Sophie Lindinger von Leyya/My Ugly Clementine mit.

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Fluchtpunkte

In der Mathematik schneiden sich zwei parallele Linien in ihren Fluchtpunkten, also im Unendlichen. Dieser Gedanke war die Inspiration für Fluchtpunkte. Der Beat baut auf einer Drum Machine auf, die das ganze Lied über den Rhythmus für die Post-Beziehungs-Melancholie stiftet. Eigentlich sollte das Lied viel größer klingen, aber als es quasi schono fertig war hat sich das Instrumental ein bisschen too much angefühlt. Als in einer Mittagspause beim Türken im Radio We No Who U R von Nick Cave lief, haben wir gesagt: Genau so machen wir das. Komplett reduziert, mit einem Unisono-Chor. 

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Tausend Formen

Das Lied, welches auf einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe aufbaut, ist seit Jahren in Ariels Schublade gelegen. Erst als unser Produzent Marco Kleebauer am Übungsklavier in seinem Studio vorschlug, neue Akkorde dafür zu finden, haben wir Tausend Formen eine zweite Chance gegeben. Da sich der bis dato vorhandene Refrain nicht mehr richtig angefühlt hat, haben wir einige Versionen probiert und auch Live gespielt, bis wir eingesehen haben, dass der ursprüngliche Refrain am meisten Kraft hatte. Dieser ist jetzt auch auf dem Album zu hören.
 

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Wolken

Der Text zum Trennungs-Song Wolken war schon lange fertig, aber wir waren nicht mit der Instrumentierung zufrieden. Nur wenige Wochen vor dem geplanten Release von Wolken haben wir uns entschieden ins Analog-Studio von René Mühlberger zu gehen – so sind an einem Nachmittag das Synthesizergedudel und die Western-angehauchte Gitarrenmelodie entstanden. René hatte auch noch die Idee, sämtliche am Computer produzierten Drums mit einem echten Drumset zu ergänzen, um einen organischeren Sound zu kreieren.

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Himmel

Genau in der Mitte von Über Nacht positioniert sich Himmel als Gegenstück zum Opener Bisher und läutet den zweiten Teil des Albums ein – den Morgen, wenn man so will. Genau wie Bisher haben wir auch Himmel bewusst in seiner Skizzenform belassen.

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Anlegen

Dieses Lied ist das einzig entschieden politische auf dem Album. Unsere anderen Lieder verhandeln eher private Themen, aber für das Lied Anlegen hat es sich richtig angefühlt. Einerseits kann man sich mit etwas anlegen, etwa mit einem System oder einer Autorität, andererseits können sich auch Dinge an etwas anlegen – unsere Taten an unserem Karma zum Beispiel. Und so ist das auch in dem Lied gemeint.

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Über Nacht

Am Anfang von Über Nacht stand nur die Refrain Idee, die sehr viel Energie hatte und die wir ewig im Loop hören konnten. Ari hat als Gegensatz dazu eine Strophe geschrieben, die das Lied ganz runterholt. Da ihm die Gesangsmelodie für die Strophe aber erst beim Verlassen des Hauses am Weg ins Studio eingefallen ist, hat er sie schnell mit der E-Gitarre unverstärkt am Handy aufgenommen. Diese Handyaufnahme ist bis heute im Hintergrund der Strophe zu hören, denn irgendwie fanden wir das charmant.

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Neue Wildnis

Neue Wildnis war das erste Demo, das wir mit Marco Kleebauer ausproduziert haben. Das Demo ist erstaunlich nahe an der jetzigen Version dran, wenn auch der charakteristische Sound sich erst mit der Produktion erschlossen hat. Wir wollten von Anfang an elektronische Beats mit gespieltem E-Bass koppeln, und Neue Wildnis war so etwas wie der erste Test ob das so funktioniert, vermutlich ist es auch so zum Songtitel gekommen, der im Text ja nichtmal vorkommt.

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Instrument

Weil im benachbarten Tonstudio eine japanische Koto für ein anderes Projekt herumstand, haben wir in einer Pause darauf herumgespielt, nur schnell mit dem Handy aufgenommen und später einen Teil davon gesampelt und mit einem Beat unterlegt. Hjörtur hatte an diesem Tag spaßhalber immer wieder ein Reggae-artiges Bassriff gespielt, welches wir schließlich rhythmisch auf den Beat angepasst haben. Ari hatte wenige Tage zuvor den Vortrag einer Tänzerin gehört, die ihren Körper als Instrument beschrieb. Dieser Gedanke diente als Vorlage für den Text. Der Song war in zwei Tagen fertig.

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Trabant

Dasselbe Koto-Sample ist auch auf Trabant zu hören, sogar noch deutlicher. Auch hier hatte Hjörtur die Idee für ein einfaches konstant laufendes Bass-Riff, das wir mit einer E-Gitarre gedoppelt haben. In der Astronomie ist ein Trabant gleichbedeutend mit einem Mond, der sich in einer konstanten Umlaufbahn um ein anderes, deutlich größeres Objekt befindet. Es gibt Menschen, die begleiten uns ein Leben lang, in Gedanken kehren wir immer wieder zu ihnen zurück. Trabant ist das einzige Lied am Album, das sich immer mehr steigert und im Outro seinen Höhepunkt hat. Es war uns relativ schnell klar, dass es der letzte Song am Album sein würde. In den slawischen Sprachen heißt Trabant einfach nur „Begleiter“. So müssen wir am Ende dieser nächtlichen Albumreise also nicht alleine nach Hause gehen.

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Oehl Tour:
14.02.2020 Milla, München
15.02.2020 Club Cann, Stuttgart
17.02.2020 Centralstation, Darmstadt
18.02.2020 Stereo, Nürnberg
19.02.2020 Lagerhaus, Bremen
20.02.2020 Hafenklang, Hamburg
21.02.2020 Kantine im Berghain, Berlin

Dominik

Bedroomdisco-Gründer, Redaktions-Chef, Hans in allen Gassen, Golden Leaves Festival Booker, Sammler, Fanboy, Exil-Darmstädter Wahl-Hamburger & happy kid, stuck with the heart of a sad punk - spreading love for great music since '08!

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