ALTIN GÜN – Yol

Altin Gün @ Sanja Marusic

Altin Gün - Yol
Foto-Credit © Sanja Marusic

Dost dost diye nice nicesine sarıldım
Dost dost diye nice nice sine sarıldım
Benim sadık yarim kara topraktır
Beyhude dolandım ey yâr boşa yoruldum

(Altin Gün – Kara Toprak)

Ein Hype ist in den letzten Jahren entbrannt um Anadolu Pop, den türkischen Sound der 1960er und 70er, um Volksmusik aus Anatolien und den benachbarten Regionen – und nach und nach auch um die Musik der türkischen Diaspora, die als „GastarbeiterInnen“ und politisch Verfolgte in Europa wirk(t)en. All das sind die Bezugspunkte eines Trends, der die Mauern westlichen Desinteresses an der Musik ihrer längst nicht nur geografischen NachbarInnen erstmals ins Wanken bringt. Mitten drin: die Amsterdamer Band Altin Gün und ihre Neu-Interpretationen aus dem üppigen Katalog der Traditionals und Folk-Songs. Was als ausgewiesene special interest von Bassist Jasper Verhulst und Freunden begann, hat der Band um die SängerInnen Merve Dasdemir und Erdinҫ Ecevit mittlerweile eine Grammy-Nominierung für ihr Zweitwerk Gece (2019) eingebracht. Die Formel ihres Sounds: Volkslieder und Klassiker von Ikonen wie Neşet Ertaş, neuvertont im Anadolu-Pop-Gewand à la Erkin Koray oder Selda Bağcan. Für manche Ohren mehr Retro als Neuerfindung, lässt sich der tanzbare, organische Sound des Sextetts nicht verleugnen.

Während Gece jedoch in gemeinsamen Aufnahmesessions mit wenigen Overdubs entstand, zählt das frisch erschienene Yol zur Reihe der Lockdown-Alben: Arbeiten auf Distanz statt im Studio, kein Materialtest an Konzert-Publikum – für eine Band, deren Live-Qualitäten zu anekdotischen Schwärmereien einladen, eine ernsthafte Herausforderung. Und tatsächlich ist das, was nach einem kurzen Intro mit Ordunun Dereleri auf die HörerInnen buchstäblich zurollt, ein Bruch mit dem psychedelischen Klängen der Vorgänger: 80er-Drums und majestätische Synthesizer treiben eine sehnsuchtsvolle Nachtfahrt voran, deren Beschreibung nicht ohne popkulturelle Referenzen auf Schulterpolster und Neonlicht auskommen kann. 

Über den schimmernden Synth-Pop singt Ecevit das Lied einer Frau, die am namensgebenden Fluss Ordu ihrem Verflossenen nachtrauert. Gemäß ihres Klassiker-Status kreisen die Songs auf Yol um die ganz großen Geschichten – Liebe, Tod, Trauer – und Tanz – und harmonieren auch dieses Mal der Songs ähnlich reibungslos mit ihren musikalischen Neufassungen, wie schon zuvor mit Percussion und elektronischem Saz. Wer will, stößt beim Nachschlagen der Lieder, deren Herkunft von Anatolien bis in den heutigen Balkan reicht, manchmal auf eine ganze Reihe von Interpretationen, die klar machen: an Genre-Grenzen sind diese Songs nicht gebunden.

So radikal, wie es die ersten Minuten des Albums vermuten lassen, dreht die Band die Retro-Uhr jedoch gar nicht nach vorne: das erfrischend minimalistische Ertaş-Cover Bulunur Mu und die pointierten Grooves von Yüce Dağ Başinda wechseln sich mit Songs im bewährten Stil ab. Der Mix funktioniert so gut, dass man ihn in der leicht abfallenden zweiten Hälfte des Albums schon wieder vermisst. Während die neuen Elemente vom klaren Sound profitieren und eben kein effektheischendes 80er-Jahre-Feuerwerk abgebrannt wird, will der Funke ohne die gemeinsame Studio-Energie bei Tracks wie Yekte nicht ganz überspringen.

Aber das bleibt Mäkelei auf hohem Niveau: mit Yol haben Altin Gün ihre Soundpalette zum richtigen Zeitpunkt erweitert, ohne sich krampfhaft einer Rundum-Neuerfindung zu unterziehen. Dass der Weg von funky Psychedelic zum Synthpop schon ziemlich breitgetreten ist, sei ihnen da glatt verziehen. Dafür machen die sechs MusikerInnen aus Amsterdam ihre Sache – auch unter Lockdown-Produktionsbedingungen – viel zu gut.

Altin Gün – Yol
VÖ: 26. Februar 2021, Glitterbeat Records
altingun.bandcamp.com
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