CIRCUIT DES YEUX – -io


Foto-© Matador Records

There’s an avalanche that lives inside me
And its ready to flow…(…)
Trying not to face this storm that’s arrived
Frozen just by the idea of taking a step,
The fear of falling through,
Of finally settling in
Walking toward winter Hand in hand with you

(Circuit Des Yeux – Walking toward Winter)

Was macht man, wenn man sich während des Lockdowns wie gefangen fühlt in einem Schwarzen Loch aus Liebeskummer, Selbstzweifeln und einer Schreibblockade? Richtig: Man produziert ein Album über Liebeskummer, Selbstzweifel und Schwarze Löcher! So geschehen bei der US-amerikanischen Ausnahmekünstlerin Haley Fohr, besser bekannt unter dem Namen Circuit Des Yeux. Sie kreiert seit über 10 Jahren Avantgarde-Kompositionen, die sich im Spannungsfeld zwischen Folk, Post-Rock, Ambient Pop und Electronic bewegen, und erinnert mit ihrem verzerrten Gitarren-Sound und ihrer tiefen, kehligen Alt-Stimme an Rock-Legende Patti Smith. Am 22. Oktober erschien das neue Werk der 30-Jährigen mit dem kryptischen Titel -io.

Entstanden ist dieses Album unter schwierigsten Bedingungen: Persönliche Probleme und die Schreibblockade Fohrs sorgten dafür, dass der kreative Prozess ins Stocken geriet und erst wieder ins Rollen kam, als sie von der Gitarre an die Orgel wechselte und so neue Inspiration fand. Wegen des Lockdowns durften obendrein immer nur 7 Musiker*innen gleichzeitig ins Studio – obwohl viele der Songs für ein etwa 23-köpfiges Orchester geschrieben wurden. Die Kompositionen mussten also auseinander abstrahiert und Schicht für Schicht aufgebaut werden. Herausgekommen ist dabei ein äußerst spannendes und komplexes Album mit dramatischen Arrangements und erwachsenen Themen: Kosmische Vorgänge wie die Geburt eines Neutronensterns werden zu einem Sinnbild für Schönheit, aber auch Einsamkeit und Anderssein, und Schwarze Löcher zu einer Metapher für Tod und Verlust. Das Album startet auch in Tonglen/In Vain direkt mit einem Atemzug – symbolisch dafür, wieviel „Atem“ und Kraft die Produktion gekostet hat.

Die Songs bauen sich langsam auf, verändern sich manchmal von Strophe zu Refrain völlig und überraschen immer wieder – jedes Lied scheint seine ganz eigene Geschichte zu erzählen und eine einzigartige Stimmung zu verbreiten. Das elegant-düstere Vanishing mit seinem treibenden Drumbeat und dem eingängigen Violinakkord schwillt nach einem simplen Einstieg zu einem orchestralen Avantgarde-Rock-Fest an, getragen von Fohrs Stimme, die hier durch ihre emotionale Kraft und Dramatik sogar ein bisschen nach Annie Lennox klingt. Mit dem Gitarren-Hook von Dogma beweist Fohr, dass sie auch ein Gespür für Ohrwürmer hat.

Aber auch ihre Experimentierfreude kommt in wunderbar bizarren und komplexen Songs zum Ausdruck, wie z.B. The Chase, das mit seinem unerbittlich pulsierendem Electro-Beat, den geflüsterten, abgehackten Lyrics und den dissonanten Gitarren eine unbehagliche Stimmung erzeugt, als wäre man auf einem Horrortrip, auf dem man das eigene Herz rasen hört. Argument geht noch einen Schritt weiter und entwickelt eine geradezu apokalyptische Atmosphäre, wenn Fohr zusammen mit einer dämonisch-verzerrten Zweitstimme singt: “Is this the end?” Die Mischung aus euphorischen Streichern, kühlen Electro-Einschlägen und sinnlich-poetischer Tiefe erinnert an Björk. Neutron Star startet zwar warm und samtig mit fast jazzigen Folk Chords, legt aber dann dramatisch einen Zahn zu: Die Musik scheint sich zusammenzuziehen, schneller zu werden und schließlich den Atem anzuhalten, wenn Fohr die Geburt eines Sterns besingt.

Ihre Vielseitigkeit stellt sie aber auch mit berührenden Balladen unter Beweis, wie dem zärtlichen, fast schon radiotauglichen Oracle Song, in dem sie sich mit der verlorenen Unschuld der Kindheit auseinandersetzt, oder dem erhabenen Walking toward Winter, das eine berührende Mischung aus Hoffnung und Schwermut ausstrahlt.
Insgesamt hat sie ein anspruchsvolles, einzigartiges und phantasievolles Werk geschaffen, voller experimenteller, vielschichtiger Kompositionen und erwachsener, schwieriger Themen, denen sich Fohr mit kraftvollen, symbolträchtigen Lyrics nähert. Mit ihrer hochemotionalen und außergewöhnlichen Stimme kreiert sie sowohl beklemmende als auch erhebende Momente, die die Hörer*innen mitreißen werden. -io ist kein lockeres Pop-Album, sondern ein intensives und lohnenswertes Avantgarde-Hörerlebnis.

Circuit Des Yeux – -io
VÖ: 22. Oktober 2021, Matador Records
www.circuitdesyeux.com
www.facebook.com/CircuitdesYeux

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Tamara Plempe

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