SOPHIE JAMIESON – Choosing


Foto-© Tatjana Rueegsegger

Who will I be, when you’re done with me
What’ll you put back in the sea
I came up to meet an old friend for coffee
Waiting to drop down to my knees
Licking the cream like there’s no more coming
But you break life to me gently

(Sophie Jamieson – Who Will I Be)

Eine leise Explosion – dieser Gegensatz beschreibt wohl ganz gut, wie sich Sophie Jamiesons Debütalbum Choosing anhört. Die am 2. Dezember erschienene Platte vereint Stille und Ausbruch, Zerbrechlichkeit und Stärke in fragil-akustischer Indie-Musik. Das Album nimmt uns mit auf eine Reise ins tiefste Innere der Londoner Künstlerin: authentisch, nah und brutal ehrlich.

Nachdem sich Jamieson nach der Veröffentlichung ihrer EPs Hammer und Release im Jahr 2012 eigentlich von der Musik verabschieden wollte, hätte niemand gedacht, dass sie zehn Jahre später mit einem gewaltigen Debüt über sich selbst hinauswachsen würde. Denn die Zeit dazwischen war alles andere als einfach. Ihre Musikkarriere hängte sie zugunsten eines Bar-Jobs an den Nagel – der sie ihren Süchten und damit auch der eigenen Selbstzerstörung näherbrachte. Diese wiederum sind der Nährboden, auf dem das neue Album entstehen konnte.

Choosing hangelt sich eindrucksvoll an den Rändern der eigenen Existenz entlang und stürzt sich schonungslos in die Abgründe von Jamiesons Gefühls- und Gedankenwelt, bevor es sich immer wieder gekonnt über die Kante schwingt und Hoffnung suchend weitermacht. Die Songs beeindrucken mit einer ganz eigenen Dynamik: Sie kommen gleichzeitig still und zerbrechlich und mit einer unglaublichen Wucht daher. Die oft sehr leise musikalische Untermalung von Jamiesons einzigartiger Stimme durch Klavier und E-Gitarre, die uns schmerzhaft nah an die Tiefpunkte der Musikerin bringt, wird manchmal von Grunge-artigen Eruptionen unterbrochen. Das Album handelt vom aktiven Entscheiden: dazu, das Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen, weitermachen zu wollen, sich selbst aus dem Abgrund ziehen zu wollen.

„Der Titel des Albums ist so wichtig“, erklärt Jamieson. „Ohne ihn würde das hier wie noch eine weitere Aufnahme über Selbstzerstörung und Schmerz klingen, dabei geht es im Kern darum, Hoffnung und Stärke zu finden.“ Das hören wir bereits im Opener Addition, in dem sich Jamiesons einzigartige Stimme von ganz tief innen nach außen stülpt und nach einem sehr leise begleiteten Part ein lauter Break stattfindet, der alles zerreißt – bevor er alles wieder neu zusammensetzt.

In Crystal kommen wir mit leisen Piano-Klängen den Geschichten der Sängerin näher. „I like it best when you’re blurry and your speech is slurry“, singt Jamieson. Sie nähert sich in ihren Songs in Figuren, die nur schattenartig umrissen werden – und im Verlauf noch mehr verblassen. In Sink steht die Sucht im Vordergrund und die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen: „Whiskey, you’re staring at me.“ Mit Fill und Empties folgen Songs, die beispielsweise durch eine chorale Mehrstimmigkeit fast schon sakral klingen und Hoffnung machen. Jamieson ist auf der Suche nach etwas, das ihre innere Leere mit Leben füllt. Das Versprechen auf Heilung thront über den Songs wie eine allmächtige Instanz. Abschließend fragt sie sich Who Will I Be, wenn der Schmerz vorbei ist. Die Stimme nun gefestigter, die musikalische Begleitung immer noch minimal, die Melodien hoffnungsvoller, leichter.

Neben spannenden Klängen und Dynamiken steht vor allem Jamiesons besondere Stimme im Vordergrund, die in einem Moment brüchig und zurückhaltend und im nächsten präsent und alles durchdringend klingt. Es gibt wenig Abwechslung, was vielleicht der spärlichen Instrumentation geschuldet ist. Dafür ist Choosing ein echtes, authentisches Album, das uns sehr nah an die Künstlerin heranlässt. Ein Album, das erbarmungslos schmerzt – und gleichzeitig zum Leben und Hoffen ermutigt.

Sophie Jamieson – Choosing
VÖ: 2. Dezember 2022, Bella Union
www.sophiejamieson.com
www.facebook.com/sophiejamiesonmusic

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Insa Germerott

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