EMILY – Filmkritik


Foto-© Capelight Pictures

Ich habe viele Geschichten.

(Emily Jane – Emily)

Emily Jane Brontë (Emma Mackey) wächst als Tochter eines Pfarrers im ländlichen Yorkshire Mitte des 19. Jahrhunderts im viktorianischen England auf. Die eigensinnige, junge Frau gilt im Ort als seltsam. Am wohlsten fühlt sich Emily in der Natur und in ihrer eigenen kleinen Welt, in der ihre Geschwister und die gemeinsam ausgedachten Geschichten im Mittelpunkt stehen. Doch solche Phantastereien treten immer mehr in den Hintergrund, da Emily und ihre Schwestern, allesamt unverheiratet, nun auch langsam zum Familienunterhalt beitragen müssen. Wie ihre ältere Schwester Charlotte (Alexandra Dowling) soll auch Emily Lehrerin werden. Doch der Druck und das neue soziale Umfeld setzen der menschenscheuen Emily enorm zu. Nur ihr genusssüchtiger Bruder Branwell (Fionn Whitehead), der seine Tage lieber bei anregenden Diskussionen im Pub verbringt, als den Ansprüchen des Vaters zu genügen, versteht sie. Bis in der Gestalt des neuen Vikars William Weightman (Oliver Jackson-Cohen) überraschend ein neuer Mittelpunkt in Emilys Leben entsteht.

Emily Brontë hat mit Wuthering Heights (Sturmhöhe) nur einen einzigen Roman geschrieben, damit jedoch eine der größten und tragischsten Liebesgeschichten der Weltliteratur erschaffen. Frances O’Connor, die für ihre schauspielerische Leistung in diversen Literaturverfilmungen bekannt ist, versucht sich in ihrem Regie- und Drehbuchdebüt an einer eigenen Auslegung, wie die 29-jährige Emily Brontë, die nur ein Jahr nach Veröffentlichung ihres Romans verstarb, so ein tiefgründiges Liebesdrama verfassen konnte. Dabei bereichern sich historische Fakten an literarischer Fiktion und O´Connor zeichnet ein fesselndes und (vielleicht etwas zu) aufregendes Portrait einer jungen Frau, die aus der Zeit zu fallen scheint.

Emily wird als eigenbrötlerisch und spröde, so wie die wilde Moorlandschaft, die auch die Gefühlswelt der Hauptfiguren in Wuthering Heights beeinflusst, beschrieben. Nichts entgeht ihrem wachen Geist und kritischem Auge. Sie lässt sich weder von den schönen Worten des schönen Vikars einlullen noch lässt sie zu, dass ihr Leben von gesellschaftlichen Zwängen oder den Bedürfnissen ihrer Familie bestimmt wird. Was für die strengen Sitten der damaligen Zeit sehr selten war. Obwohl in den inhaltlichen Aspekten des Drehbuchs mehr Dichtung als Wahrheit ist, findet sich immerhin eine innere Wahrheit in der Art und Weise, wie Emily ihre Welt erlebt. Sie begeistert sich für die Gedichte von Lord Byron, raucht mit ihrem Bruder gerne ab und an Opium und ist empfänglich für liberales Gedankengut, welches sie auch oft verbalisiert. Die Eigensinnigkeit und die Leidenschaft, die Emily oft an den Tag legt, ist wie auch die neblige Landschaft, deren Atmosphäre Regisseurin O’Connor gekonnt einfängt, auch in Wuthering Heights sehr präsent und man kommt nicht umhin, immer wieder Parallelen zu dem Roman zu ziehen. Einzig die Liebesgeschichte, die Emily angedichtet wird, wirkt etwas zu dramatisiert und nimmt leider einen zu großen Stellenwert in der Entstehungsgeschichte des Romans ein. Es wäre so viel wohltuender und so viel passender, wenn Emily charaktertreu und aus ihrer schier unerschöpflichen Liebe zum geschrieben Wort die Energie und Motivation zu Wuthering Heights gezogen hätte und nicht, wie es der Film in teils feuchtheißen Szenen darstellt, aus unbändiger Liebe zu einem Mann. Aber auch der ewige Regen, der in Yorkshire häufig morastige Hügellandschaft und Lungenentzündungen hervorruft, lässt sich mit Fantasie und kuscheligen Stunden vorm Kaminfeuer gleich viel leichter aushalten.

Emily ist ein bildgewaltiges Drama und erzählt voller Melancholie von künstlerischen Aspirationen, Enttäuschungen, verbotener Liebe und Tragik. Emma Mackey spielt Emily als leidenschaftlichen Wildfang und überzeugt in jeder Situation. Die Szenenbilder harmonieren mit der fantastischen und plastischen Musik von Abel Korzeniowski (A Single Man, W./E.), dem es mal wieder gelingt, unausgesprochene Gefühle in Melodien einzufangen. Ein Film von Fans seiner Musik und für Fans von tragischen Liebesgeschichten, die beide Augen, ob der historischen Ungereimtheiten verschließen, um besser hinhören zu können.

Emily (UK 2022)
Regie: Frances O´Connor
Besetzung: Emma Mackey, Oliver Jackson-Cohen, Fion Whitehead, Gemma Jones, Adrian Dunbar
Heimkino-VÖ: 3. März 2023, Capelight Pictures

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Helena Barth

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