ANATOMIE EINES FALLS – Filmkritik


Foto-© Les Films Pelleas

Manchmal ist ein Paar ein einziges Chaos.

(Sandra Voyter – Anatomie eines Falls)

Als Samuel (Samuel Theis) tödlich verunglückt, ändert sich das Leben seiner kleinen Familie drastisch. Sandra (Sandra Hüller) steht auf einmal vor Gericht, und der gemeinsame Sohn Daniel (Milo Machado-Graner) ist wichtigster Zeuge. Während der Film allen Anschein nach ein Gerichtsdrama erzählt, merkt man schnell, dass es eine tiefere Ebene gibt. Anatomie eines Falls ist dabei die Geschichte eines Paares außerhalb einer gesellschaftlichen Norm.

Der Hauptteil des Film spielt dabei ein Jahr nach dem tödlichen Unglück und während der Hauptverhandlung gegen die wegen Mordes an ihrem eigenen Mann verdächtigten Sandra Voyter. Dabei lässt der Film den Zuschauer von Anfang an im Unklaren, was eigentlich passiert ist, gibt aber Spielraum für Interpretationen und wirft auch einige Brotkrummen dafür aus. Spannend sind hier auch die Kameraperspektiven, die manchmal an alte Videoaufnahmen erinnern, wodurch der Film an manchen Stellen an einen Dokumentarfilm erinnert. Trotz Merkmale eines klassischen Crime-Thrillers fokussiert sich der Film stärker auf die Charaktere als auf den Fall selbst.

Dabei wirkt der Film wie eine Charakterstudie. Während der Verhandlungen entsteht eine sehr tiefgehend beeindruckende Charaktertiefe der beiden Hauptpersonen, obwohl einer der beiden Akteure gar nicht mehr lebt. Dadurch entsteht ein Bild eines Paares, was einen oft tiefgehenden philosophischen Ansatz hat. Ein Ansatz, der gegen eine vermeintlich gesellschaftliche Norm geht und allein deswegen verräterisch wirkt. So ist die Frau erfolgreicher, beide streiten oft, der Mann unterrichtet das Kind und weitere Themen, die vielleicht nicht unbedingt in ein traditionelles Familienbild passen und allein deswegen die Anklage zu rechtfertigen scheinen. Dabei wirkt der Austausch von Anklage und Verteidigung manchmal wie ein Austausch von Argumenten gegen und für ein gewisses Beziehungsbild.

Das alles geschieht jedoch nebenbei. Keines der Themen wird einen auf die Augen gedrückt, im Vordergrund steht weiter die Gerichtsverhandlung und man ist begeistert, wie gut die teils philosophischen Themen in die Geschichte eingewebt werden. Schuld daran ist vor allem auch das Drehbuch, das mit sehr guten Dialogen glänzt. Das Schauspiel ist ebenfalls klasse, allen voran Sanda Hüller, die für ihre Leistung auch schon einige Preise abräumen konnte und ebenfalls für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert war, während Regisseurin und Drehbuchautorin Justine Triet den Oscar für das beste Originaldrehbuch gewonnen hat.

Anatomie eines Falls scheint in erster Linie ein Gerichtsdrama zu sein, entfaltet sich aber zu etwas völlig anderem, mit einer Intensität und Tiefe, die einen noch lange beeindruckt und nachdenken lässt. Wer den Film verpasst hat, sollte das auf jeden Fall zum Heimkinostart nachholen!

Anatomie d’une chute (FRA 2023)
Regie: Justine Triet
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis
Heimkino-VÖ: 29. Februar 2024, Plaion Pictures

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Patrick Freitag

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