Foto-© Noel Richter
Weil ich das Heimweh nicht mehr aushalt‘
In den Zug, um dich zu seh’n
Freilichtbühne Recklinghausen
Wo die öden Winde weh’n
Im Motel One die Schlaftablette
Melatonin, Melatonin
Mit dem Taxi um die Wette
Abfahrt schon um sechs Uhr zehn
Den ganzen Abend hat’s geregnet
Aber man muss dankbar sein
Wenn man den Leuten noch begegnet
Nicht nur als Klick auf Spotify
Goldеn years, golden years, goldеn years
Golden years, golden years, golden years
(Tocotronic – Golden Years)
Man kann nur hoffen, dass die drei von Tocotronic diesmal treffsicherer sind mit ihrer Prognose. 2022 nannten sie das Ende Januar veröffentlichte 13. (!) Album Nie wieder Krieg – was wenige Wochen später in der Ukraine geschah, erschüttert die Welt bis heute. Jedenfalls das Gegenteil von Nie wieder Krieg, dem durch ein Käthe-Kollwitz-Plakat von 1924 ikonisch gewordenen Friedens-Motto. Wäre schön, wenn es diesmal, mit Golden Years als Zukunftsaussicht, besser funktionierte.
Obwohl man – und das weiß die kluge, scharfsichtige Band Tocotronic natürlich auch – da schon Zweifel haben darf angesichts der tristen Realität. Es ist also bestimmt ein gehöriges Maß an Sarkasmus im Spiel bei dem aktuellen Plattentitel.
Der Gegenwart, mit dem scheinbar unaufhaltsamen Erstarken von Rechtspopulismus und skrupelloser Menschenfeindlichkeit, haben Dirk von Lowtzow (Gesang/Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) eine Vorab-Single gewidmet, die im Spätherbst ziemlich einschlug. Denn sie wissen, was sie tun (in cleverer Abwandlung von Bibel- und James-Dean-Film-Zitaten) nahm sich des traurigen Zeitgeist-Phänomens ähnlich unverblümt an wie ein paar Jahre zuvor Danger Dan mit Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.
Darum muss man sie bekämpfen, denn es werden immer mehr
Darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher
Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt
Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt
Okay, konnte wohl jeder gute Demokrat zu den ersten drei Zeilen des Refrains noch sagen – aber auf die Münder küssen? Sanftheit als Mittel gegen Rechts? „Nein, das Gegenteil ist der Fall“, erklärt Dirk von Lowtzow im Bedroomdisco-Interview. „Dies ist eigentlich ein drastisches Bild. Der Kuss führt ja in diesem Fall dazu, dass das Gegenüber abgemurkst wird, indem man ihm die Luft zum Atmen nimmt.“ Gemeint ist demnach eher ein Todeskuss für die Fiesen. Also ein typisches Tocotronic-Ding, eine „doppelsinnige Qualität“ von Worten, wie diese Band sie schon immer mochte.
Andere Lieder von Golden Years sind weniger politisch (eigentlich ist Denn sie wissen, was sie tun der einzige echte Protestsong des Albums), aber nicht weniger geheimnisvoll, bleiben auch mal rätselhaft. So geht es gleich im Opener Der Tod ist nur ein Traum, von Lowtzow wunderbar baritonweich gesungen, um die letzten Dinge. Oder doch nicht? Mit der Textzeile „Du kannst mir fast vertrau’n“ hat der Songwriter auch hier, mit „fast“, einen Stolperstein eingebaut, „eine Sprengfalle gegen Kitsch“, wie er im Interview lachend sagt. Wie auch immer: So ein Lied über den Tod können auf Deutsch wohl nur Tocotronic schreiben.
Während Bleib am Leben anschließend ein schön geradeaus laufender, leicht punkiger Power-Pop-Song ist, der den Toten Hosen im Stadion-Format Konkurrenz machen könnte, biegen die Tocos im Titelsong auf einen bisher so von ihnen noch nicht gekannten Americana-Seitenweg ab. Fast im Country-Modus geht’s um Zugfahrten, vorbei an der (in Wirklichkeit gar nicht existierenden) „Freilichtbühne Recklinghausen/wo die öden Winde weh’n“ und dann „über Göttingen zum Glück“. Eine Art surrealistisches Road-Movie, bei dem sich Lowtzow auch ein bisschen dankbar für sein Leben als tourender Musiker zeigt („Wenn man den Leuten noch begegnet/nicht nur als Klick auf Spotify“).
Nach der mit Brit- und Sophisticated-Pop flirtenden Platte Die Unendlichkeit von 2018 (mit feinem Prefab-Sprout-Zitat in Electric Guitar) ist es also diesmal ein von Wilco/Jeff Tweedy oder Neil Young informierter Folkrock, der sich in weiträumigen Melodien und Feedback-Exkursionen äußert (der langjährige Gitarrist Rick McPhail wird nach seinem Ausstieg vermisst werden). Das Slacker-Stück Mein unfreiwillig asoziales Jahr, Wie ich mir selbst entkam und Der Seher lassen E-Gitarren und Drums prachtvoll dröhnen und poltern, Niedrig gibt sogar Maultrommel und Melodica hinzu wie in einem Western-Soundtrack. Der Text von Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song geht auf Tweedys Buch Wie schreibe ich einen Song zurück, das Lowtzow „sehr berührt“ hat.
Dass Tocotronic die Kunst von Slogans, die sich klasse auf T-Shirts drucken lassen, weiterhin beherrschen, beweisen Vergiss die Finsternis oder Bye bye Berlin. Den Hörer ins Grübeln bringt „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“: Ist es David Bowie, der Anfang der 70er-Jahre bekanntlich als Kunstfigur „Ziggy Stardust“ dahinschied und dann später fast nochmal durch Drogen, ehe er ab 1976 ausgerechnet in Berlin zum guten, gesunden Leben zurückfand? Der britische Pop-Großmeister hat im übrigen auch ein Lied namens Golden Years geschrieben – klingelt’s? Andererseits sagt Dirk von Lowtzow: „Ich hab Bowie immer total bewundert, aber: Man soll ihn nicht imitieren, das geht meistens schief.“
Wie eigentlich gewohnt von Tocotronic, gibt’s auch auf diesem Album keinen schwachen Song. Recht zugänglich und ausgesprochen abwechslungsreich ist Golden Years noch dazu. Der Begriff Hamburger Schule für diese Musik gehört daher wohl wirklich bald mal in die Mottenkiste der Kritiker-Phrasen.
Obwohl die Tocos längst entspannt damit umgehen: „Was sollten wir auch machen, wir hatten es ja selbst verbockt. Inzwischen finden wir es eher lustig. Ich kann es wertschätzen, zu dieser ganz besonderen Szene gehört zu haben“, sagt Arne Zank im Gespräch. Und Dirk von Lowtzow meint dazu: „Das ist ja nichts, weswegen man sich schämen muss. Diese Hamburger Schule, der Diskurs-Pop, das Spiel mit Zitaten, all das wird halt hier sehr oft als irgendwie intellektuell gelesen, dabei ist das Ganze sehr viel spielerischer gewesen.“
Nennen wir es also einfach eine hervorragende folkrockige Deutschpop-Platte, die Tocotronic mit Golden Years, ihrem 14. Studioalbum in 30 Jahren, gemacht haben.
Tocotronic – Golden Years
VÖ: 14. Februar 2025, Epic Records
www.tocotronic.de
www.facebook.com/Tocotronic
Tocotronic auf Tour:
19.03.25 Leipzig, Felsenkeller
20.03.25 Stuttgart, Im Wizemann
21.03.25 Nürnberg, Z-Bau
26.03.25 München, Tonhalle
27.03.25 Freiburg, E-Werk
29.03.25 Wiesbaden, Schlachthof
09.04.25 Bremen, Schlachthof
10.04.25 Dortmund, FZW
11.04.25 Hannover, Capitol
12.04.25 Köln, E-Werk
20.04.25 Berlin, Columbiahalle
26.04.25 Hamburg, Große Freiheit
