
Foto-© Ryley Paskal
Wenn jetzt sickelixir erscheint, ist das nicht einfach nur ein neues Album, sondern ein Statement: Blawan, bürgerlich Jamie Roberts, liefert etwas, das sich nicht damit zufriedengibt, einfach weiterzumachen. Wer ihn seit seinen ersten EPs verfolgt hat, merkt: das hier ist sein bislang intimstes, zugleich kompromisslosestes Werk – ein Album, das aufbricht, was man bisher von ihm dachte. Jamie Roberts stammt aus Barnsley, South Yorkshire, wo er zunächst als Schlagzeuger in Bands spielte, bevor ihn elektronische Musik komplett vereinnahmte.
Über Labels wie Hessle Audio, R&S oder Hinge Finger fand er in den frühen 2010ern schnell Anschluss an die damals aufblühende UK-Bass- und Post-Dubstep-Szene. Doch während viele in dieser Nische hängenblieben, schlug Blawan den Weg in dunklere, härtere Gefilde ein. Mit Veröffentlichungen auf seinem eigenen Label Ternesc und Tracks wie Why They Hide Their Bodies Under My Garage schuf er sich den Ruf eines Soundtüftlers, der rohe Energie in präzise, fast chirurgisch strukturierte Maschinenmusik verwandelt. Neben seiner Solokarriere formte er mit Pariah das Live-Duo Karenn, war Teil diverser Nebenprojekte wie Persher und veröffentlichte unter Aliassen wie Kilner oder Bored Young Adults. Nach seinem gefeierten Debütalbum Wet Will Always Dry von 2018, das mit brachialem Techno und körperlich spürbarer Produktion neue Maßstäbe setzte, zog sich Roberts phasenweise zurück – aufs Land, auf eine Farm, fern vom Clubstress, um wieder Erdung zu finden.
Mit sickelixir, seinem ersten Album auf XL Recordings, kehrt er nun mit einem Paukenschlag zurück. In 14 Tracks bündelt er all das, was ihn musikalisch ausmacht – nur diesmal tiefer, persönlicher, reflektierter. Laut Blawan selbst ist sickelixir durchzogen von Themen wie Verlust, Neubeginn und Identitätssuche. Produziert wurde an wechselnden Orten – Berlin, Leeds, Paris, Lissabon – und genau diese geographische Zerrissenheit hört man dem Album an, allerdings nicht als Chaos, sondern als vielstimmiges Mosaik. Blawan legt hier sein bisher emotionalstes Werk vor, ohne die physische Wucht zu verlieren, die seine Produktionen immer ausgezeichnet hat.
Klanglich ist sickelixir eine Gratwanderung zwischen Industrial, Noise, Bass Music und Avant-Techno. Statt klarer Strukturen gibt es Brüche, Übergänge, Schichten, die sich gegenseitig überlagern. Die Beats sind oft nur noch schemenhaft zu erkennen, die Vocals – wenn sie auftauchen – sind meist so stark verzerrt, dass sie mehr Textur als Sprache sind. Trotzdem hat jedes Detail seinen Platz. Nichts ist zufällig, nichts will bloß schocken. Blawan arbeitet hier mit Sounddesign auf höchstem Niveau: jede Verzerrung, jedes Knacken, jeder kurze Moment von Stille wird zum Bestandteil der Dramaturgie. Im Vergleich zu Wet Will Always Dry ist sickelixir weniger ein Clubalbum als ein filmischer Trip – düster, körperlich, kathartisch.
Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz ist der Track NOS, mit dem das Album angekündigt wurde. Er pendelt zwischen aggressiven Bassausbrüchen und fast flüsternden Passagen, als würde sich die Musik ständig neu anspannen und wieder loslassen. Die Spannung zwischen Laut und Leise, zwischen mechanischem Druck und organischer Unruhe, zieht sich durchs ganze Album. In Casch experimentiert Blawan mit klackernden Percussion-Elementen, die wie auseinanderfallende Maschinen klingen, dazu zischelnde Vocals, die eher ein Echo als ein Text sind. Der Track klingt, als würde er sich selbst zerlegen – ein Sinnbild für die Dekonstruktion, die das ganze Album durchzieht. Dann gibt es Rabbit Hole, einen überraschend berührenden Moment inmitten all der Dissonanzen: hier tauchen gesungene Vocals von Monstera Black auf, die sich mit verzerrten Synthflächen verweben. Der Song bringt Licht ins Dunkel, ohne weich zu werden, fast wie ein kurzer Blick durchs Fenster in ein anderes Leben. Und schließlich Don’t Worry We Happy – ein ironisch betiteltes Stück, das sich komplett um verzerrte Stimmeffekte dreht. Man fragt sich beim Hören, ob das alles eine manipulierte A-capella-Spur ist oder ob die Beats tatsächlich existieren. Es ist diese Ambiguität, die den Reiz von sickelixir ausmacht: Nichts ist eindeutig, alles bleibt in Bewegung.
Was Blawan hier gelingt, ist bemerkenswert: er hat seine musikalische Sprache weiterentwickelt, ohne ihre Direktheit zu verlieren. sickelixir ist intensiv, aber nicht nur in der Lautstärke – es ist emotional dicht, ehrlich, manchmal fast beängstigend nah. Wo frühere Werke noch auf die physische Wirkung im Club setzten, geht es hier um Innenschau, um Verarbeitung, um das, was nach dem letzten Drop bleibt. Dass XL Recordings ihm für dieses Album die Plattform bietet, passt perfekt: sickelixir klingt roh und ungezähmt, gleichzeitig aber so präzise konstruiert, dass man bei jedem Hören neue Details entdeckt.
Am Ende bleibt sickelixir ein Werk, das sich zwischen Kunstinstallation, Technomanifest und persönlicher Beichte bewegt. Es fordert Geduld, Neugier und ein offenes Ohr – aber wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Blawan zeigt, dass elektronische Musik nicht nur Clubfutter sein muss, sondern genauso introspektiv, verletzlich und menschlich sein kann. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt: sickelixir ist keine Flucht aus der Welt, sondern eine Auseinandersetzung mit ihr, übersetzt in Klang. Ein roher, vibrierender, fordernder Trip – und wahrscheinlich das stärkste Lebenszeichen eines Produzenten, der nie stehen bleibt.

Blawan – sickelixir
VÖ: 10. Oktober 2025, XL Recordings
www.blawan.com
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