LAURA DÜRRSCHMIDT – Es gibt keine Wale im Wilmersee

Vergessen, das sei zu einfach, es mache Dinge nicht ungeschehen, ist die namenlose Erzählerin zu Beginn von Laura Dürrschmidts Debüt-Roman Es gibt keine Wale im Wilmersee überzeugt. Seit einem Unfall im titelgebenden See, der sie ihre Schwester und beinahe auch ihr eigenes Leben kostete, verweigert sich die junge Frau dem Vergessen, ja, dem üblichen Verständnis von Zeit im Allgemeinen. Warum sollte man Gestern, Heute und Morgen sorgsam hintereinander auffädeln, Wahrheiten wie ihre Familie „in Einmachgläsern im Regal verstauben“ lassen, wenn man stattdessen alle Ereignisse gleichzeitig betrachten könnte, ohne Veränderung, ohne Verlust?

Eingeigelt in den Zwischenräumen der Zeit, fort vom starren Rhythmus der Schule und tief in die eigenen Erinnerungen versunken, will sie sich nicht wie ihre ferne Mutter auf eine einzelne Geschichte von den Walen im Wilmersee beschränken, aber es zumindest anders machen als ihr Vater, der seinen Schmerz bis zur Unkenntlichkeit in Erzählungen zwängt. Anders auch als ihr trinkender Bruder, dessen Klavierspiel verstummt ist und die verbliebene Schwester, die sie noch rechtzeitig aus dem Wasser zog. Doch ihre Strategie wird auf die Probe gestellt: In ihrem Heimatort Wilmer, wo „das Ende der Welt schon ausgeschildert“ ist, hält ein Auto aus der Großstadt, aus dem Jora steigt – eine Neugierige, eine angebliche Ausreißerin und, wenn man dem großen Bruder glaubt, eine Lügnerin.

„Lügen, das ist, wenn man absichtlich etwas Unwahres sagt. Geschichten hingegen können Verstecke sein“, beschwichtigt die Erzählerin, doch ihre Sicht der Zeit trübt die Verlässlichkeit ihrer eigenen Worte. Ihre Figuren tauchen auf und ab, ohne den letzten Beweis ihrer Existenz zu erbringen. Kontinuität bietet da nur das Haus der Familie, das – ausgestattet mit Rückenmark und einem Kopf unter dem Dach, den die Erzählerin partout nicht betreten will – selbst lebendige Züge erhält, aber nicht verloren gehen kann. Stattdessen flackert neben dem blinkenden Plattenspieler eine Öllampe, knistern Schallplatten und knarzen Fußböden. Während solche Schauplätze anderswo nach Schwärmereien Smart-Phone-müder Städter auf der Suche nach analoger Wärme klingen, passt ihre Zeitlosigkeit in Wilmer ins Konzept: Die Protagonistin kann sich nicht von den behutsam ausgeleuchteten Details lösen; den LeserInnen gibt es Halt, wenn am hölzernen Restfamilientisch im Bauch des Hauses wieder dampfend heißer Tee ausgeschenkt wird.

Um ihren Roman dennoch vor einem Abgleiten in Cottage-Core-Ästhetik und die LeserInnen vor dem temporären Orientierungsverlust zu bewahren, hat Dürrschmidt der Erzählung sparsame Dialoge und rigoros kurze Kapitel verordnet: Durchatmen und Luft holen vor dem nächsten Tauchgang. Die Nüchternheit der Satzstummel, denen sich ihre Figuren bedienen, lässt auch eine Antwort auf die Schuldfragen erahnen, die auf der traumatisierten Familie lasten. Für weitere Antworten ist dagegen mehr Geduld gefragt. Bis man die Ereignisse schließlich so wie die Erzählerin betrachtet, das Heute gleich neben Morgen gestellt, hat man auch einen neuen Blick auf die Autorin und Es gibt keine Wale im Wilmersee gewonnen: Ein Erstlingswerk, das gleichzeitig ein feinfühliger wie geschickt erzählter Roman ist, und eine Debütantin, deren Zukunft noch mehr dieser Geschichten bereithält.

Laura Dürrschmidt – Es gibt keine Wale im Wilmersee
VÖ: 21. September 2021, ecco Verlag
Hardcover, 286 Seiten
ISBN: ‎978-3753000060