LIKA NÜSSLI – Starkes Ding

Das Cover ziert ein struppiges Etwas, ein wilde Frisur in markanten Strichen. Unbekleidete Füsse mühen sich an einer Steigung ab  – ein befremdlicher Anblick, der bereits auf den ersten Seiten von Lika Nüsslis Starkes Ding aufgeklärt wird. Es handelt sich hierbei um ein Heuburdi, ein gigantisches Heubündel, das gerade noch durch eigene Körperkraft bewegt werden kann. Ein metaphorisches Motiv, denn immer wieder wird in dem gut 200 Seiten starken Graphic Novel die Frage gestellt, wie viel ein junger Mensch (er)tragen kann.

Der zweite Weltkrieg liegt in den letzten Zügen, während der junge Ernst auf dem Bauernhof seiner Familie in der Schweiz aufwächst. Krieg bedeutet für ihn  den Verzicht auf seinen Vater, der immer wieder an der Grenze dienen muss, der Absturz eines Militärflugzeugs oder der Funkenregen eines Bombardements in der Ferne. Doch schließlich schleichen sich die Nachwirkungen dieser schrecklichen Zeit auch unumgänglich in sein Leben ein, denn im Jahr 1949 erscheint ein Bauer, auf der Suche nach einer helfenden Hand. Ernst wird von seinen Eltern als Verdingbub auserkoren und muss die nächsten vier Jahre auf einem fremden Hof leben und vor allem arbeiten. Es ist eine schwere Zeit voller körperlicher und seelischer Gewalt. Eine Zeit, die nur selten wirkliche Freiheit erlaubt und tiefe Spuren hinterlässt.

Doch Autorin Lika Nüssli schildert in rührenden Bildern taumelnde Szenarien zwischen den Überlebenskämpfen der Protagonist*innen und der kindlichen Leichtigkeit des Landlebens. Trotz allen Anstrengungen erfährt Ernst auch kleine Momente des Glücks. Nach etwas mehr als der Hälfte bricht Nüssli schließlich ihre bisherige Erzählstruktur auf und fügt ihrem Comic eine weitere Ebene hinzu, bevor sich das Schicksal um Ernst immer mehr zuspitzt. Die letzten Jahre auf dem Hof werden in wahnvollen, fast schon surrealen Zeichnungen bebildert, die bisherige Zeitlinie geht zunehmend in assoziative Darstellungen über. Und dann ist ganz plötzlich alles vorbei.

Starkes Ding ist eine mitreißende Milieustudie und eine hochpersönliche Erinnerung, die lange nachhalt. Jede einzelne Seite wirkt im ungewohnten, breiteren A4-Format nach, die Aufmachung ist, wie von Edition Moderne gewohnt, herausragend. Damit schickt der Verlag einen frühen Anwärter für das schönste Coffee Table Book des Jahres ins Rennen. Am Ende ist reicht es sogar für die Graphic Novel des Jahres – verdient hätte es Starkes Ding allemal.

Lika Nüssli – Starkes Ding
VÖ: 7. April, Edition Moderne
Softcover, 232 Seiten
ISBN 978-3-03731-227-8

Fred

Fred ist 32 Jahre, wohnt in der Pop-City Damstadt und mag Hunde, Pizza und Musik.

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