BOYGENIUS – the record


Foto-© Harrison Whitford

You said my music is mellow,
maybe I’m just exhausted.
You think you’re a good person,
because you won’t punch me in the stomach.

(boygenius – Letter To An Old Poet)

Die Gründung von boygenius, das war so etwas wie warmer Kakao in einer Badewanne im tiefsten Winter – genau das, was wir brauchten, als wir es brauchten. Mit der Girlgroup, bestehend aus Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus kam 2018 ein Versprechen, und fünf Jahre später kommt nun das Album. Wer sich nicht entscheiden kann, ob Balsam für die Seele oder Suhlen im eigenen Leid das Rezept ist, der ist hier genau richtig.

Das Talent, aus dem boygenius schöpfen können, ist in der Zeit seit der Gründung mehr als bekannt geworden. Phoebe Bridgers wurde mit Punisher zum Grammy-nominierten Superstar, Lucy Dacus und Julien Baker haben sich mit erfolgreichen dritten Alben (Home Video & Little Oblivions) endgültig etabliert und spielen einen volleren Sound. Das ist die großartige Ausgangssituation: Keine der drei braucht die Gruppe für einen Karriere-Boost, alle fliegen auf einem Hoch.

Deshalb gibt es wenige Statements und wenig Konzept auf the record, der ersten Veröffentlichung der Gruppe seit der selbstbetitelten EP 2018. Es geht um die tiefe Verbundenheit der drei Künstlerinnen. Und mehr braucht es auch nicht, wenn so viel queere, wütende, verletzliche, versöhnliche, reflektierte, auflehnende, anklagende, liebevolle und harmonische Energie zusammenkommt. the record wird seinem Namen gerecht, es ist Epitom des Contemporary Indie (mit allen Stärken und Schwächen).

Nach dem Lagerfeuer-Prelude Without You Without Them steigt Julien Baker mit $20 ein. Die Vorab-Single überrascht mit ihrem unverschnörkelten Rock-Sound. Voller Klang, zarter und folkiger Gesang, Sinnlichkeit und Verzweiflung. Der Song ist wie ein Spoiler: boygenius werden in den nächsten 40 Minuten immer dann am besten sein, wenn sie sich in die Rock-Ecke trauen. Alle drei haben die Skills und einen gewissen Hang dazu, doch sich dem Genre bisher nie wirklich verpflichtet.

Was ansonsten passieren kann, zeigt Emily, I’m Sorry. Eine Bridgers-B-Seite, die so auch hinten auf einem ihrer Solo-Alben versteckt sein könnte, mit viel verzerrten Gitarren und Selbstzweifel: „I’m twenty-seven and I don’t know who I am, but I know what I want.”

Auch True Blue trägt eine klare Handschrift, nämlich die von Lucy Dacus, die hier inhaltlich an Home Video anknüpft und vielschichtig von Heimat und Geborgenheit singt: „I remember who I am when I’m with you. Your love is tough, your love is tried and true-blue.” Mit dem Interlude Leonard Cohen und We’re In Love hat Dacus noch zwei weitere stark geschriebene, aber weniger denkwürdige Hauptrollen auf the record.

Alle drei Künstlerinnen geben einander viel Raum auf dem Album, jede hat mindestens zwei Quasi-Solo-Tracks, bei denen die anderen beiden höchstens ein künstlerisches Zahnrädchen drehen und Backup-Vocals bereitstellen. Das ist legitim und klingt jeweils vertraut, denn das ist es auch. Nur hätte es dafür die vielbeschworene Supergroup nicht gebraucht.

Doch sie kommt zur Rettung, keine Sorge, wie es sich für Super-Somethings gehört. Leise und unauffällig, mit einem Mauerblümchen des Albums: Cool About It, einer wunderschönen Erzählung von versteckter Überforderung und davon, mit den falschen Menschen zusammen zu sein. Die Country-Anleihen aus den ländlichen Staaten, aus denen Dacus und Baker stammen und den sie so ambivalent betrachteten, werden hier sachte versponnen. Und auch Not Strong Enough gibt jeder Sängerin eine Strophe, die jeweils individuelle Stärken hervorhebt. Dabei singen sie alle über ihre Schwächen, und schaffen es gleichzeitig anzuklagen, wie die Gesellschaft mit Stärken und Schwächen bei Frauen umgeht. Die Zeile „Always an angel, never a god“ ist eines der Kern-Statements des Albums.

Die Depressionen und Schmerzen der Bandmitglieder bleiben daneben weiterhin tonangebend, aber mit genügend Zynismus und Augenzwinkern hält man dies gerade so aus. Dabei klingt Revolution 0 leider wieder wie ein Punisher-Track (mit denselben Akkorden), enthält aber die fantastische Zeile „Wish I wasn’t so tired, but I’m tired”, die wohl jede Person mit Depressionserfahrungen verinnerlicht hat.

Es dauert eine Weile, bis wir mit Satanist wieder mehr Rock unter der Regie von Julien Baker bekommen. 2000er-Nostalgie, vom aufmerksamkeitsheischenden Titel über das wunderbare E-Gitarren-Thema bis zum gesellschaftlichen Umsichschlagen: „Will you be an anarchist with me? Sleep in cars and kill the bourgeoisie“. Die Anarchie, in die der Song dann abgleitet, ist ein absolutes Highlight – und mit dem psychedelischen letzten Drittel ein Beweis der musikalischen Vielseitigkeit, die boygenius mitbringen kann.

Auch Anti-Curse ist Teenager-Rock der besten Art: „Salt in my lungs, holding my breath, making peace with my inevitable death“. Baker ist unter den drei Freundinnen diejenige, die ihren Solo-Stil hier am erkennbarsten weiterentwickelt. Ihre ganze Performance ist rauchiger und dunkler geworden, die Schnitte gehen tiefer als auf ihrem 2016er-Debüt Sprained Ankle, das noch mit traurig-leichten Songs wie Blacktop glänzte.

Eine Extrarunde für die Fans gibt es zum Abschluss des Albums, mit Letter To An Old Poet, einer emotionalen Ballade mit einfacher Klavierbegleitung. Die Akkorde sind wieder dieselben, doch die eigentliche Selbstreferenz liegt in einigen adaptierten Zeilen aus Me & My Dog gegen Ende. Als dann auch noch der Jubel aus der Menge bei einer Performance desselben Songs im Jahr 2018 erklingt – laut Bridgers ein kathartischer Moment für die Band – ist die Selbstumarmung gelungen.

Die 12 Songs des Albums zeigen eine beeindruckende Bandbreite und holen mit Sicherheit Fans aller drei Sängerinnen ab. Die Kombination aus reifem, perfekt intoniertem Folk, etwas Emo-Rock und Bedroom Pop mit einer deutlich zurückhaltenderen elektronischen Komponente als auf den letzten Phoebe Bridgers Songs geht dabei runter wie Öl. Die Gruppe findet immer neue Varianten der Zusammenarbeit und des Zusammensingens. Je mehr Rock sie dabei wagen, desto besser klingen sie. Doch egal in welcher Variation, boygenius nehmen sich Raum und Zeit für sich selbst, für Reflexion und ausgebreitete Leadgitarren. Sie sind sie selbst, und bleiben es hoffentlich noch eine Weile – einzeln wie als Gruppe.

boygenius – the record
VÖ: 31. März 2023, Interscope Records
www.xboygeniusx.com
www.facebook.com/boygeniustrio

boygenius Tour (Support: Muna):
15.08.23 Berlin, Verti Music Hall
16.08.23 Köln, Palladium

YouTube video

Phillip Kaeding

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