KAE TEMPEST – The Line Is A Curve


Foto-© Wolfgang Tillmans

Ancient
Slick clay, rock-formed, wet sand, moss-borne
What camе before
And what will come aftеr
Beneath the orderly queues, the bad moods, the nice views
The have-nots and have-twos, the night shifts in flat shoes
The discarded masks, the empty tubes
The colds, the flus, the reds, the blues, the Buy-to-let, the Play-to-lose
The White Ace, the Grey Goose, the Michelin-starred, the fast food
The straight lies, the strange truth

(Kae Tempest – Salt Coast)

Ein Album von Kae Tempest löst eine Erwartungshaltung aus, die auf den ersten Blick viel besser zu einem Buch oder einem Film passt: Plötzlich geht es nicht mehr um die Frage, wie es wohl klingen wird, sondern vor allem, welche Geschichte die Hörer:innen dieses Mal erwartet. Vom Debüt-Album Everybody Down (2014) an hat Tempest, inzwischen preisgekrönte:r Künstler:in, das Medium genutzt, um Charaktere zu erschaffen und ihre verwickelten Schicksale zu erzählen. Der Clou: jedes Album wird zum Langgedicht (oder andersherum?), zu einer zusammenhängenden Erzählung, der sich am Stück statt häppchenweise folgen lässt.

Auf dem dieser Tage erscheinenden The Line Is A Curve bricht Tempest zum ersten Mal mit dem besonderen Konzept. Zwölf proper songs füllen das mittlerweile vierte Album – aber die Linie würde sich nicht zum Kreis krümmen, wenn ein Tempest-Album keinen roten Faden hätte. Da ist die beat-getriebene Basis des Albums, der Tempest treu geblieben ist: Wo der Vorgänger The Books of Traps and Lessons (2019) mit dezenter Klavier- und Streicherbegleitung nach innen in das erschöpfte, abgekämpfte Selbst wies, kehrt The Line Is A Curve es nun hörbar nach außen. Der Spoken-Word-Minimalismus ist einem Stilmix aus Synthpop, Trip-Hop und aufspielenden Bläsern gewichen, ist Club-Warteschlange, U-Bahnfahrt und Kerzenschein und geht dank Produzent Dan Carey trotzdem bruchlos ineinander über.

Und da ist, auch wenn es im Musikbetrieb erstmal wenig überraschend klingt – Tempest selbst: „I am right here / I am managing“ sind die zentralen Sätze, in die das Album nach einer knappen halben Stunde im elegischen These Are The Days mündet. Dass Tempest nicht mehr durch Figuren, sondern lautstark selbst spricht, stellt die größte Neuerung im stets auf Erzählungen konzentrierten Werk dar – und markiert einen neuen Schritt für Tempest als Künstler:in: Hin- und hergerissen zwischen der Ablehnung des Rampenlichts mit seinen Erwartungen und dem Wunsch nach Anerkennung für das eigene Schaffen, ging Tempest 2020 in die Offensive, nutzte mit dem Covid-Lockdown die erste Pause nach endlosen Auftritten zum Neustart und outete sich als trans/nicht-binär.

Die Texte von The Line Is A Curve verhandeln Druck, Chaos und den Schritt zum offenen, ehrlicheren Sprechen in der Öffentlichkeit. Tempest hat sich das Zuschütten von Gräben auf die Fahne geschrieben; das Wecken von Empathie, mehr als Künstler:in denn als Aktivist:in, ist das erklärte Ziel. Was in Worten abstrakt klingt, leuchtet beim Hören schnell ein: Das Lieben und Zweifeln, dass Tempests Charaktere Song für Song auf so beschädigten, so realitätsnahen Bühnenbrettern aufführen, entfaltet eine Sogwirkung. Beinahe schafft sie das, was Tempest zuletzt in einem 2020 veröffentlichten Essay forderte: sich in Kunst vertiefen, mitleiden und dem alltäglichen Abstumpfen entgegentreten.

Beinahe, denn für Tempest bleibt entscheidend, dass sich alle gemeinsam vertiefen. „Verbunden-sein“ (engl. „On Connection“), so der Titel, ist nun wenig überraschend das zweite zentrale Thema des neuen Albums und bringt alte Gewohnheiten ins Wanken: Wenn Tempest mit Priority Boredom über einem düsteren, Anne-Clarke-haften Gerüst eine Bestandsaufnahme beginnt, ist da eine einzelne Person, einsam predigend auf der Bühne. Doch kurz darauf, ab I Saw Light, stößt Grian Chatten (Fontaines DC) hinzu und von da an spricht, rapped und rezitiert Tempest immer seltener alleine, schart Gäste wie Lianne La Havas für die Trip-Hop-Perle No Prize, den Brockhampton-Rapper Kevin Abstract oder Wegbegleiter:innen aus früheren Londoner Tagen um sich – auch eine Art, den Kreis zu schließen und sich mit anderen zu verbinden.

Mit The Line Is A Curve ist Tempest ein Neuanfang gelungen, der hörbar aus der ganzen Breite des bestehenden Werks – ob Album, Theaterstück oder Essay – schöpft, ein Perspektivwechsel, der Tempest mehr Offenheit, Ehrlichkeit und manchmal Unverblümtheit ermöglicht und eine zeitgemäße Erzählform, die Hörer:innen und Text noch näher zusammenbringt. Dass man nach dem Hören wieder ein wenig Mut fasst, es könnte doch noch irgendwie mit Empathie und Verbundenheit klappen, ist dabei von allen Geschichten vielleicht die schönste.

Kae Tempest – The Line Is A Curve
VÖ: 8. April 2022, Virgin Records
www.kaetempest.co.uk
www.facebook.com/kaetempest

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