KETTCAR – Gute Laune ungerecht verteilt


Foto-© Andreas Hornoff

Mittelmeer, Massengrab, so traurig hier, zynisch da
First-defense-Konferenzen, Zäune bauen, hoch die Grenzen
Kleingeister verachten, Bilder abgestumpft betrachten
Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot
Die Höhlen verlassen, die Hütten gebaut
Das Feuer gezähmt, den Keulen vertraut
Und dann kam das Rad, dann kamen Kirche und Staat
Und jetzt schreien sie „Absaufen“ in Dresden
Am helllichten Tag

(Kettcar – Auch für mich 6. Stunde)

Ungerecht verteilt ist so ziemlich alles auf dieser Erde. Und dementsprechend auch die gute Laune. Eigentlich offensichtlich, aber es braucht erstmal wieder ein Kettcar Album, um diese Wahrheit vor die Augen und auf die Ohren zu bekommen. Mit Gute Laune ungerecht verteilt melden sich Kettcar sieben Jahre nach Ich vs. Wir zurück, frisch, wuchtig, poetisch. Mit „Unser politischstes Album seit… Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen“ merken sie gleich im Opener Auch für mich 6. Stunde die Ambivalenz solcher Aussagen an, während man aber hier vielleicht einfach mal sagen muss: ja doch, das ist politisch, gesellschaftskritisch, im besten Sinne und grade weil es Ambivalenzen aushält. Dieses Album ist ein Vorschlag gegen einfache Lösungen.

Auf den 12 neuen Stücken kommt ganz viel zusammen, was Kettcar über die Jahre als Band ausgezeichnet hat. Es gibt kaum einen Song auf dem Album, der nicht a la Balu oder Balkon gegenüber dieses gemeinsam-am-Deich-sitzend-Mitsing-Gefühl erzeugt. Hervorzuheben sind da die düstere Bestandsaufnahme Auch für mich 6. Stunde, Rügen, ein Song über das Elternsein oder Einkaufen in Zeiten des Krieges („Und nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen. Und es ist alles schon gesagt, aber noch nicht von jedem“).

Anders ist das insofern, als dass es in der kürzeren Vergangenheit der Bandgeschichte immer wieder sehr sperrige Songs gab, die gefühlt auf Grund der komplexen politischen Thematik schwer in ein musikalisches Gerüst passten. Das gelingt nun, und wie! Mit München wird die Hässlichkeit von Alltagsrassismus in einem kraftvollen Rocksong bildhaft beleuchtet, mit der gelungenen Unterstützung von FJØRT Sänger Chris Hell. Eine hymnenartige Lektion in gesellschaftlicher Spaltung gibt es mit Doug & Florence: „Du wüsstest auch gern, wie das ist einmal frei zu sein. Dann könntest du dir durchaus vorstellen mal liberal zu sein“. Eine sehr überzeugende Skizze einer aneinander vorbeilebenden Großstadtgesellschaft. Das Besondere, was sich an einem solchen Song zeigt, ist dass die Songschreiber Wiebusch und Bustorff nicht in Plattitüden verfallen. Sie versuchen die Dinge so komplex sie sind darzustellen und so stehen zu lassen, nicht aufzulösen. Nun waren Kettcar nie für Banalitäten bekannt, aber mit dieser Platte scheinen sie ein neues Level zu erreichen. Natürlich gehört immer auch die nötige Prise Hoffnung bei schwermütiger Grundhaltung dazu: „Bevor die letzte Hoffnung schwindet, ein Bengalo in der Nacht, bevor die Dunkelheit dich findet“

All die typisch explizite Lyrik wird in eingängige Melodien gegossen, der Sprechgesang einiger letzter Hits weicht wieder Wiebuschs vertrauter kratziger Gesangsstimme, von der man meint sie immer genau so mitsingen zu können und sich dann doch wundert, wie schön und einmalig es bei ihm klingt. Gitarren, Keyboards und Schlagzeug überlagern sich, machen Dampf und Lust auf Tanzen und Bewegung. Viele Melodien klimpern im Hintergrund. Es scheint als hätten sich auch Christian Lake und Erik Langer bei der Albumproduktion musikalisch ausgetobt. Musik und Text schmiegen sich über die 12 Stücke so großartig aneinander und bearbeiten dabei komplexe politische und persönliche Themen. Dazu kann man tanzen, verzweifeln oder herzlich lachen. Wie genau machen sie das?

Nur wirklich ruhige Momente hat das Album kaum, bis auf das zarte, wunderschöne Zurück, was für einen Moment die zerbrechende Welt ausblendet. Mit Ein Brief meines 20jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter) endet dieser jetzt schon zeitlose Klassiker von Album mit einer persönlichen und am Ende doch auch versöhnlichen Sicht Wiebuschs auf sich selbst in einer Welt, die letztendlich (sind wir doch mal ehrlich) für jeden einzelnen viel zu kompliziert ist: „In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen, in jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan, den Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht, seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich. Und du tust, was du musst. Und du hoffst, dass es langt.“

Gute Laune ungerecht verteilt ist Kettcar at it’s best. Wer weiß, was das bedeutet, kann sich nur freuen, dass dieses Album Begleitung für herausfordernde Zeit ist.

Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt
VÖ: 05. April 2024, Grand Hotel van Cleef
www.kettcar.net
www.facebook.com/kettcar

Kettcar Tour:
05.04.24 Helgoland, Nordseehalle (mit Thees Uhlmann)
08.04.24 Köln, Luxor – ausverkauft
11.04.24 Saarbrücken, Garage – ausverkauft
12.04.24 Wiesbaden, Schlachthof – ausverkauft
13.04.24 Oberhausen, Turbinenhalle 2 – ausverkauft
14.04.24 Bremen, Pier 2
16.04.24 Hannover, Capitol
17.04.24 Leipzig, Haus Auensee
18.04.24 München, Tonhalle
19.04.24 Köln, Palladium
20.04.24 Berlin, Columbiahalle
23.04.24 Erlangen, E-Werk – ausverkauft
24.04.24 Stuttgart, Im Wizemann
25.04.24 Bielefeld, Lokschuppen
26.04.24 Dresden, Alter Schlachthof
27.04.24 Hamburg, Sporthalle

YouTube video

Christian Weining

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