ANJIMILE – The King

Is this growing old?
Evеry day another grief to hold
And I heard bluе lives matter
From a white liberal
Piece of shit I couldn’t stand at all
If you treat me like an animal
I’ll be an animal

(Anjimile – Animal)

Stimmen sind politisch. Bei kaum einer Person kommt diese Tatsache auf so vielen Ebenen zum Tragen wie bei Anjimile Chithambo. Als schwarzer trans-Künstler in den USA ist er Zielscheibe politischer Anfeindungen, Betroffener politischer Verwerfungen und Teilnehmer im politischen Diskurs. Darüber hinaus ist aber auch die Stimme selbst Teil dieses Diskurses. Studien legen nahe, dass Menschen Stimmen meist als männlich oder weiblich identifizieren, aber auch gender-lose oder gender-neutrale Stimmen als solche erkennen können.
Die Musik von Anjimile zu hören, ist in diesem Zusammenhang ein spannender Selbsttest. Mit einem beeindruckenden Stimmumfang und einmaliger Stimmfarbe sprengt sein Gesang teilweise die Vorstellung einer männlichen oder weiblichen Stimme.

Und auch Anjimiles neues Album, The King, ist ein Sprengversuch. Von der Leichtigkeit eines Songs wie Baby No More ist nichts mehr übrig. Nun geht es raus aus der Lethargie, raus aus den Ausreden, Klarheit und Konfrontation. Konfrontation ist auch die musikalische Gegenüberstellung von akustischen Folk-Songs und waghalsigen Genre-Crossovers von Chormusik bis Post-Industrial, die das Album durchziehen.

Das alles zeigt bereits der Titel-Song The King, der aus dem Sound eines Kirchenlieds nach und nach eine bedrohliche Inszenierung biblischen Ausmaßes macht. Im Zentrum steht die Geschichte des babylonischen Königs Belshazzar, dessen Untergang vom Propheten Daniel vorhergesagt wurde. Ernst und Anspruch werden also gleich aufs Maximum gedreht.

Die beiden ruhigen Stücke Mother und Anybody unterfüttern den epischen Start mit persönlichen und aktuelleren Bezug. Auf Mother wird eine der Kernbotschaften Anjimiles als Weisheit der Mutter ausgesprochen: „Love the fighter, hate the fight”. Die Gitarrenbegleitung bleibt hier meist klassisch, Anjimiles Stimme steht im Vordergrund.

Mit Genesis braut sich dann musikalisch etwas zusammen. Auf einem Spieluhr-ähnlichen Thema baut Anjimile ein Klagelied auf: “Help us, Carry us, Burn us, Bury us, Getting serious now, Hold us, Bear us, Fight us, Furious”. Der Song schließt mit einem fast unangenehm dissonanten E-Gitarren-Solo, das sich zusammen mit dem Mantra-artigen „Are you with me?“ beim Hören einbrennt. Der Kampf, der hier beschworen wird, ist nicht glorreich oder edel, sondern verzweifelt und stoisch.

Stoisch sind auch die rauen Akkorde auf Animal, einer der Vorab-Singles. Über dem brutalen Instrumentalteil singt Anjimile seinen markanten Text teilweise fast säuselnd, die Aussagen funktionieren als Manifest. So ist Animal als einer der wenigen Songs auch wirklich in sich geschlossen, steht für sich. Single- oder gar radiotaugliche Eigenschaften sucht man ansonsten vergeblich. Zu düster, zu konfrontativ bleibt das Album. Dabei werden auch Anjimiles musikalische Einflüsse wie Sufjan Stevens oder José Gonzalez in den Hintergrund verdrängt. Substance over style ist das Motto. Die Meditation an der Gitarre ist aber nicht ganz verschwunden, in einzelnen Momenten wie in Father kehrt ein wenig Leichtigkeit zurück. Der Song funktioniert wie eine dringend benötigte Atempause, auch wenn die teils brüchige Stimme und die bedrohlich schrammenden Streicher eine gewisse Ruhelosigkeit aufrechterhalten.

Die Breite an Sounds und Stilen, auf die Anjimile in einem so kurzen Album hintergründig zurückgreift, ist beeindruckend. Harley setzt auf eine ruhige, atmosphärische und rein elektronische Begleitung zu einer variierenden gesanglichen Performance und Black Hole geht gleich noch ein paar Schritte weiter: Der Song klingt, als hätte jemand ein paar Spuren aus einem Industrial-Track geklaut und aus Freude am Schock mit dem zärtlichsten Gesang gepaart.

Zum Ende schwingt das Pendel scheinbar noch einmal zurück zur Akustik-Folk-Musik. I Pray ist fast schon ein einfaches Lied, bis es sich zur Hälfte mit Hall und Verzerrung in seine metallischen Hintergrundgeräusche auflöst. Die Dreidimensionalität, die Anjimile hier erzeugt, ist befremdlich und vereinnahmend. Sein Song selbst wird zum Nebengeräusch innerhalb der dystopischen Klangschale, die sich aufbaut.

Damit ist die Stimmung bereitet für den Closer The Right, der den Chor zurückbringt. Zusammen mit diesem vermittelt Anjimile hier noch einmal sehr direkt seine Verbitterung: „Call into question, All I have known, Raised on a rotting, Barricade of bone, Pray for me”

Die zweite Hälfte des Albums geht unter die Haut und ist noch schwerer zu verdauen als die erste. Wie zuvor auf Genesis schließt der Künstler seine verheerende Gegenwartsbeschreibung mit einer Frage. Sie ist revolutionär, aber zweifelnd, wütend, aber zaghaft: „Haven’t I earned the right?“ Die Fragen, die Anjimile stellt, aber vor allem die Art und Weise, wie er fragt, können ihn als Liebling der Musikkritik und sogar als starke, unabhängige Stimme der nächsten Welle schwarzen Widerstands in den Staaten etablieren.

Anjimile – The King
VÖ: 8. September 2023, 4AD
www.anjimile.com
www.facebook.com/anjimilemusic

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Phillip Kaeding

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